Der Beethoven-Fluch
geblieben war? Sicher, gewiss – doch nachdem sie jahrelang in einem Nebelschleier aus endlosen Träumen und halbwach erlebten Albträumen nach jener Melodie geforscht hatte, brachte sie es noch nicht über sich, die endlich enträtselte Musik einem anderen zu überlassen. Erst wollte sie das Lied selber hören, und sei es nur ein einziges Mal. Am Abend hatte sie es nicht gespielt, aus Angst, sie könnte Sebastian damit aus dem Schlaf reißen. Doch jetzt, beim Rauschen der Dusche, konnte er sie ja nicht hören.
Das uralte Knochenstück behutsam in der Hand, wartete sie, bis aus dem Badezimmer ein gleichmäßiges Prasseln ertönte. Erst dann setzte sie das primitive Instrument an die Lippen.
Die Fingerkuppen auf den entsprechenden Löchern, blies sie ins Mundstück und mühte sich ab, die Töne C, G und D zu treffen. Sie klangen nicht richtig rund, ja unsauber fast – ein animalischer Ruf wie aus grauer Vorzeit, ein Hauch von Regen und Rauch, Kälte und Glut. Meer war, als schwebe der Ruf zum Zimmer hinaus nach draußen, um dann die ganze Stadt zu umfassen, den ganzen Planeten und schließlich hinauf bis in den Weltraum zu dringen. Diese ersten drei Noten waren dermaßen aufwühlend und schwierig, dass sie die Flöte gleich wieder niederlegte. Durch die Geschichte hindurch hatten Menschen genau diese Noten gespielt, und zwar auf den verschiedensten Instrumenten. So gesehen waren es nicht nur die Töne, die anders waren, sondern ihre besonderen Schwingungen. Immer noch spürte Meer den Nachhall im Zimmer, fühlte, wie lange es dauerte, bis sie endlich verklangen. Waren das die binauralen Takte, von denen ihr Vater gesprochen hatte?
Das stetige Rauschen der Dusche erinnerte sie daran, dass sie nur einen begrenzten Zeitrahmen zur Verfügung hatte.
Es musste sein, und zwar sofort!
Noch einmal setzte sie an, selbstbewusster diesmal, und hielt das C länger. Dann spielte sie die zweite Note, die sich mit dem noch klingenden Ton vermischte, danach die dritte und vierte: ein dissonantes Gemisch an Klängen, das schrill in den Ohren widerhallte.
Sie hielt inne. Das Ganze war kein Spiel, keine theoretische Etüde.
Beethoven hatte recht gehabt.
Als sie die nächsten beiden Noten spielte, da hatte sie das Gefühl, als würde sie sich auf ruchlose Finsternis einlassen, auf einen Pesthauch der Verdammnis, ein schauriges Vorspiel … Aber sie musste es tun, musste es hinter sich bringen, ein für alle Mal.
Sie spielte die Melodie von vorn, beginnend mit der ersten Note, gefolgt von der zweiten, und dann …
“Was machen Sie da?”, rief Sebastian.
71. KAPITEL
D onnerstag, 1. Mai – 08:52 Uhr
Mit tropfnassem Haar, ein Handtuch um die Hüften geschlungen, stand er in der Badezimmertür. Die kräftigen Schultern, die sich abzeichnenden Muskeln an Brustkorb und Armen waren gespannt. “Haben Sie’s herausgefunden?”
Sie nickte.
“Spielen Sie es für mich, bitte.”
“Wir wissen doch nicht, was die Melodie anrichten kann!”
“Das ist mir egal.”
“Beethoven war fest davon überzeugt, dass sie gefährlich war! Deshalb hat er sich ja dieses aufwendige Täuschungsmanöver …”
Sebastian fiel ihr ins Wort. “Beethoven lebte vor über hundertfünfzig Jahren. Und wieso er überhaupt irgendetwas versteckt hat, weiß kein Mensch!”
“Ich schon! Nach seiner Überzeugung wohnten der Melodie böse Kräfte inne. Er hatte es gehört. Er wusste, wozu es imstande war. Er hatte recht!”
“Das steht nicht in dem Brief. Davon war nicht die Rede.”
“Aber ich
weiß
es! Glauben Sie mir etwa nicht?”
“Wenn ich Ihnen nicht glaubte – wäre ich dann immer noch bei Ihnen? Wären wir dann hier? Haben Sie die Melodie tatsächlich entschlüsselt? Bitte, Meer! Ich mache Ihnen auch keine Vorwürfe, wenn mir irgendetwas zustößt – aber spielen Sie mir das Lied vor!” Das Flehen in seinen Augen war noch verzweifelter als das in seiner Stimme. Sie hätte ihm gern geholfen, doch sie kannte die Gefahr. Sie hatte Erinnerungen erlebt, ohne dafür gewappnet zu sein. Bei dem Versuch, vor ihnen zu fliehen, hätte sie um ein Haar einen lebenslangen Schaden davongetragen.
“Nicht, solange nicht genau feststeht, welche Folgen das für Sie hat. Nicht, solange wir hier allein sind, solange wir in Gefahr schweben. Helfen Sie mir hier heraus … mit der Flöte … Bringen Sie mich zu meinem Vater … zu Malachai … Gemeinsam können wir dann überlegen, was als Nächstes zu tun ist.”
Sebastian wollte schon wieder
Weitere Kostenlose Bücher