Der Beethoven-Fluch
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Sebastian
77. KAPITEL
D onnerstag, 1. Mai – 11:22 Uhr
Unschlüssig wartete Malachai Samuels gegenüber der Polizeiinspektion Deutschmeisterplatz 3, unweit des verkehrsreichen Schottenrings. Er überlegte, wie er weiter vorgehen sollte. Er war ratlos – ein für ihn ungewohntes Gefühl. Eins stand jedenfalls fest: Auf eigene Faust konnte er unmöglich eine Erfolg versprechende Suchaktion nach Meer oder Jeremy durchführen. Nicht in einem fremden Land, dessen Sprache er kaum sprach. Und sich einen Führer zu besorgen, das dauerte zu lange. Ergo blieb es ihm wohl nicht erspart, die örtlichen Behörden einzuschalten; alles andere erschien ihm angesichts dessen, was auf dem Spiel stand, als zu riskant. Es gab schlicht und ergreifend zu viele offene Fragen.
Wer mochte sonst noch wissen, dass Meer am Tag zuvor die Flöte gefunden hatte? Wo war ihr Vater abgeblieben? Hatte er erfahren, dass seine Tochter unauffindbar war? Hatte er deswegen das Krankenhaus auf eigene Verantwortung verlassen, um sich auf die Suche nach ihr zu begeben? Ihretwegen würde er alle Hebel in Bewegung setzen; ob er sich dabei in Gefahr begab, tat nichts zur Sache. Aber wen mochte er telefonisch ins Krankenhaus bestellt haben? Laut Auskunft der Schwester hatte er die Klinik in Begleitung eines Mannes verlassen. Sebastian? Der allerdings war auf dem Handy nicht zu erreichen.
Trotz des regen Verkehrs hörte man kaum Gehupe; der Morgen war auf trügerische Weise schön. Rote und violette Blumen leuchteten in den Kübeln vor der Modeboutique gleich neben der Polizeiwache. Auf der anderen Straßenseite stand ein offenbar aus dem frühen 19. Jahrhundert stammendes Gebäude, an dessen Vorderseite ein Fries des Hirtengottes Pan mit seiner Flöte prangte.
Musikalische Denkmäler waren in Wien keine Seltenheit. Dass es sich gerade an dieser Ecke ausgerechnet um einen Flötenspieler handelte, wäre wahrscheinlich jedem anderen als Malachai wie purer Zufall vorgekommen. Er hingegen versuchte nun schon seit dreißig Jahren zu beweisen, dass nichts im Leben ohne Grund passierte.
Er überlegte. Wenn er jetzt
nicht
die Fahrbahn überquerte und bei der Polizei Vermisstenanzeige erstattete, dann bestand vermutlich Gefahr für Meers und Jeremys Leib und Leben. Dass sie alle beide verschollen waren, kam bestimmt nicht von ungefähr. Mit der Anzeige setzte er sich allerdings auch selber einer polizeilichen Überprüfung aus, die ihm sehr ungelegen käme. Einmal mehr würden die Umstände gegen ihn sprechen. Es bedurfte keiner besonders ausschweifenden Fantasie, um sich vorzustellen, welches Indizienkonstrukt Interpol und FBI gegen ihn vorbringen würden: Zum zweiten Mal in weniger als einem Jahr war ein Kunstgegenstand einem Raub zum Opfer gefallen. Ein antikes Artefakt im Wert von mehreren hunderttausend Dollar – eines, das zudem möglicherweise das Glaubenssystem von Millionen Menschen sowie zahlreiche wissenschaftliche Prinzipien ins Wanken brachte. Und jedes Mal war Malachai Samuels nicht nur am Tatort gewesen, sondern zudem ein enger Bekannter der verschollenen Beteiligten.
Nur: Gab es außer ihm nicht noch Hunderte anderer, die scharf waren auf diesen Gegenstand? Er selber hätte gleich etliche Namen aufführen können. Malachai ging es nicht ums Geld; er bezweifelte auch, dass es an dieser Stelle den möglichen Kunsträubern nur um das Monetäre ging. Er für seinen Teil kannte die Grenzen seines Gewissens. Die Frage war allerdings: Wie weit würde das Direktorium der Gesellschaft für Erinnerungsforschung gehen, um an die Flöte zu gelangen?
Wie sehr war beispielsweise Brecht erpicht darauf, einen Beweis für die Wiedergeburt zu erbringen? Am Abend zuvor hatte er noch gesagt, er habe jemanden beauftragt, die Spielekassette aufzuspüren. Der Kontaktmann habe sie aber bislang noch nicht ausfindig machen können. War das wohl gelogen? Hatte Brecht längst in Erfahrung gebracht, dass Meer die Flöte entdeckt hatte? Hatte er sie etwa entführt?
Und wie groß war das Bedürfnis von Dr. Erika Aldermann, das Potenzial der binauralen Takte nachzuweisen?
Seit dreißig Jahren erforschte sie nun schon die harmonische Resonanz. Malachai selbst hatte das entschlossene Blitzen in ihren Augen gesehen. Was würde sie alles dafür geben, der wissenschaftlichen Welt ihre Theorien zu beweisen?
Ferner hielt Malachai es für keineswegs ausgeschlossen, dass noch andere ihm bisher unbekannte Memoristen hinter der Flöte her waren – vermutlich waren
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