Der Beethoven-Fluch
hinter diesem Manöver steckte? Vermutlich gingen doch auch der Raub des Beethoven-Briefs und der Spieleschatulle auf sein Konto – und der Tod von Dr. Schmettering und Jeremys Haushälterin! Was, wenn er ihren Vater, Sebastian und auch die Flöte in seiner Gewalt hatte?
Ein quietschendes Scharnier riss sie aus ihren Grübeleien. Mit einem Male öffnete sich die Tür, und bevor Meer hingucken oder gar protestieren konnte, fuhr ein Arm durch den Spalt und zerrte sie in ein dunkles, schattenhaftes Foyer.
“Ach, Sie sind es!”, entfuhr es ihr, als sie Sebastian erkannte. “Gott sei Dank! Ist mein Vater auch hier?”
“Ja.”
“Alles in Ordnung mit ihm?”
“Ja. Ich bringe Sie zu ihm.”
Meer blickte Sebastian skeptisch an. “Geht es ihm wirklich gut?”
“Ja, Meer, es geht ihm gut. Wirklich.” Er sah ihr direkt in die Augen. Schlagartig war ihr, als höre sie zwei unterschiedliche Takte, jeden in einem anderen Ohr – ein Gefühl von Geborgenheit und Grauen zugleich.
“Wir müssen da lang.” Er wandte sich in das düstere Innere des Gebäudes. Sie kam ihm nach.
“Sebastian, die Flöte ist weg! Wissen Sie, wo sie ist?”
“Ja.”
“
Ja?
Das ist alles?”
Als sie in den noch dunkleren Hauptsaal gelangten, verstärkte sich Meers Beklommenheit noch. Bei ihrem ersten Besuch gemeinsam mit ihrem Vater hatte sie eine Abwehrreaktion erlebt; ein Gefühl von Unheil und Tragödie hatte damals in der Luft gelegen. Jetzt war es sogar noch schlimmer und so deutlich spürbar, dass es ihr schier den Atem verschlug.
“Die Flöte ist in Sicherheit”, sagte Sebastian. “Ich würde niemals zulassen, dass ihr etwas geschieht.” Seine Stimme mischte sich mit dem Hallen seiner Schritte auf dem Marmorfußboden.
“Ich verstehe das nicht … Wieso haben Sie sie denn mitgenommen? Und wieso sind Sie verschwunden, ohne mir Bescheid zu sagen?”
“Weil Gefahr im Verzug war. Tut mir leid. Das alles tut mir leid.” In seiner Stimme schwang ein solches Pathos mit; es durchdrang selbst Meers beklemmendes Gefühl.
Nachdem sie das Allerheiligste hinter sich gelassen hatten, erkundigte sich Meer nach dem Warnschild draußen am Gebäude.
“Der Majordomus”, berichtete Sebastian, “erhielt heute Morgen einen Anruf mit dem Hinweis auf eine eventuell undichte Gasleitung. Da hat er die Mitarbeiter alarmiert und allen bestellt, sie möchten bis auf Widerruf erst mal wegbleiben.”
“Wie bitte? Ein Gasleck? Und da befindet sich mein Vater hier im Haus?”
“Wie schon gesagt, es geht ihm bestens.”
Sie gelangten an eine mächtige Eichentür, die Sebastian für Meer aufhielt. Meer betrat eine von Büchern gesäumte Bibliothek und hielt sogleich Ausschau nach ihrem Vater. Sie sah jedoch lediglich leere Sessel, Reihen gedrechselter Regale, Teppiche mit verschlungenen Mustern sowie eine Flucht von Farbglasfenstern.
“Wo ist er denn nun?”
“Hier hindurch.” Er riss eine Ecktür auf, hinter der sich ein kleiner begehbarer Schrank verbarg. An einem Ende stand ein Stapel Kartons; Doppelregale säumten die gegenüberliegende Wand. Sebastian streckte tastend die Hand aus, und schon vor der Bewegung ahnte Meer, dass er einen verborgenen Hebel betätigte. Als plötzlich ein Wandabschnitt zur Seite glitt, trat Meer hastig vor und blickte hinunter in einen finsteren, gähnenden Schlund, aus dem ein Schwall dumpfer, feuchter Luft heraufwehte.
Sie kannte diesen Ort! Kannte diesen geheimen Zugang, erinnerte sich an alles, was sich dahinter verbarg. Hin- und hergerissen zwischen einst und jetzt, durchforschte sie ihr Gedächtnis krampfhaft nach etwas Konkretem, Greifbarem.
“Hier geht es in die Katakomben, nicht wahr? Warum müssen wir da runter?”
“Da unten befinden sich sämtliche Schätze der Gesellschaft”, erklärte Sebastian. “Alle historisch wertvollen Dokumente.” Mit einem Ruck an einer Schnur schaltete er die Beleuchtung ein. Eine steile Wendeltreppe führte hinunter in die Tiefe – dieselben Stufen, die Meer in ihren Erinnerungssprüngen gesehen hatte. Als sie hinuntereilte, überkam sie erneut das vertraute Frösteln, diesmal aber so plötzlich und heftig, dass sie sich auf die Hand biss, damit ihre Zähne nicht klappernd aufeinanderschlugen. Es galt, unbedingt in der Gegenwart zu verbleiben; sie durfte sich jetzt nicht von ihren Erinnerungen überwältigen lassen.
Acht, neun … Unwillkürlich zählte sie die Treppenstufen. Elf, zwölf … es müssen fünfzehn sein, dachte sie. Und siehe da,
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