Der Beethoven-Fluch
angefangen.
“Durch meine Nachforschungen bin ich bei Traumata durch Jenseitserfahrungen gelandet – und damit bei der Gesellschaft für Erinnerungsforschung. Nachdem ich Ihrem Vater geschildert hatte, was mit meinem Sohn los ist, erzählte er mir im Vertrauen auch Ihre Geschichte.”
Meer gab keine Antwort. Sie war nicht daran gewöhnt, ihre ureigenste Hölle mit Außenstehenden zu diskutieren. Für einen Augenblick vergaß sie ihre Sorge um ihren Vater und war richtig wütend auf ihn. Wie kam er dazu, diesem Sebastian das alles anzuvertrauen? Wie stand er zu ihm?
Entweder bemerkte Sebastian ihr Zögern nicht, oder er sah bewusst darüber hinweg. “Mein Sohn”, fuhr er fort, “ist jetzt in einer sehr schlechten Verfassung. Er wohnt in der psychiatrischen Klinik, in der meine geschiedene Frau arbeitet. Er darf nicht einmal mehr mit mir reden.” Vor lauter Kummer versagte ihm fast die Stimme.
“Das bedaure ich sehr.” Meer hatte Mitleid mit ihm, aber mehr noch mit seinem Kind.
“Danke. Es ist schrecklich. Nicht für mich, sondern für Nicolas, für jeden weiteren Tag, den er verliert. Und das Schlimmste ist, dass Rebecca und ich uns nicht über den nächsten Schritt einigen können. Sie ist eine rational denkende Frau und betrachtet die Dinge nur aus einer einzigen Warte. Anfangs habe ich ihre Methode und die der Ärzte mitgetragen, aber dann verging zu viel Zeit ohne greifbare Ergebnisse. Es gibt auch noch andere Wege, die ich alle ausprobieren möchte. Wir
müssen
es versuchen.”
“Sie denken an eine Regressionstherapie? Hypnose?”
Sebastian bejahte nickend und bog rechts ab in eine breite Allee, wobei er die Kurve dermaßen scharf nahm, dass die Reifen empört quietschten. Er schaltete das Radio wieder ein. Mozarts
Prager Sinfonie
erfüllte das Wageninnere. “Entschuldigen Sie, Sie haben momentan ja selber den Kopf voll. Da sollte ich Sie nicht zusätzlich belasten, sondern eher ein wenig ablenken. Also lassen wir meine Probleme mal beiseite, und ich erzähle Ihnen ein wenig über die Gegend hier.” Etwas gezwungen, aber schwungvoll begann er mit einer detaillierten Ortsbeschreibung. “Das hier ist die Ringstraße, der Wiener Prachtboulevard. Er verläuft kreisförmig um die Innenstadt. Angelegt wurde er 1857 nach der kaiserlichen Anordnung, die alte Stadtmauer aus dem 13. Jahrhundert zu schleifen.”
Unter den gegebenen Umständen empfand sie es als seltsam, zugleich aber auch als Erleichterung, als Sebastian Otto ihr die Zwillingsmuseen – eines kunst-, das andere naturgeschichtlich – und die Hofburg zeigte.
“Eine Privatführung!”, rief sie fröhlich. “Wie reizend!”
“Meine Mutter leitete ein Reisebüro und veranstaltete Stadtführungen. In der Sommersaison, wenn die Touristenströme einsetzten, musste ich oft als Aushilfsführer ran. Liegt in der Natur der Sache.”
“Und ich musste im Sommer immer im Antiquitätengeschäft meiner Mutter aushelfen. Da machte Ihr Job vermutlich mehr Spaß. Immerhin waren Sie an der frischen Luft.” Sie schaute durch die Seitenscheibe. “Irgendwie kommt mir das alles so bekannt vor. Als wäre ich schon mal da gewesen. Wie Paris vielleicht?”
“Richtig. Das kaiserliche Wien ist in mancherlei Hinsicht Paris nachempfunden. Für eine europäische Stadt ist vieles von dem, was man sieht, verhältnismäßig jung, im 19. Jahrhundert erbaut. Diese Stadterneuerung und die horrenden Kosten dafür waren der Grund, dass der Kaiser den Rückhalt in der Bevölkerung verlor. So, und nun kommen wir in die Innenstadt”, sagte er, wobei er den Wagen erneut in eine der engen, gewundenen Straßen lenkte.
“Das da drüben passt aber nicht hierher”, bemerkte Meer und wies auf ein Bankgebäude an der Straßenecke. “Zu neu!”
“Komisch … Stammt aus den Dreißigerjahren, insofern ist es so neu auch wieder nicht. Es ist schwierig, in einer so geschichtsträchtigen Stadt ein architektonisches Gleichgewicht zu halten und Wiens Gesamtbild nicht zu verschandeln …”
Meer hörte gar nicht mehr hin. Voraus tauchte ein Kaffeehaus auf mit riesigen Panoramafenstern in verwitterten, geschnitzten Holzrahmen. “Jetzt weiß ich, wo wir sind. Diese Straße habe ich schon mal gesehen. Das Auktionshaus ist nur eine halbe Häuserzeile von hier.”
“Woher kennen Sie die Entfernung?”
“Muss ich wohl mal im Kino gesehen haben. Hier wurden ja so viele Filme gedreht. Ist dies nicht ein sehr berühmtes Viertel?”
Sebastian stellte den Wagen ab, kam dann zur
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