Der Beethoven-Fluch
Beifahrerseite und hielt Meer die Tür auf. Beim Aussteigen bot er ihr die Hand – eine antiquierte, galante Geste, die sie vollkommen überraschte und die das Frösteln sowie jenes ungute Gefühl, von dem sie auf einmal befallen wurde, noch verstärkte. Binnen Sekunden fing alles ringsum zu flirren an, wurde gleichsam durchscheinend – die Passanten, das Auto, die augenblickliche Wirklichkeit. Sie fühlte einen metallischen Geschmack, von dem sie regelrecht Zahnschmerzen bekam. Ihre Schultern verspannten sich; ihre Kinnpartie verkrampfte; ein Schmerz durchfuhr sie wie eine Wellenbewegung. Tief unten in der Lendengegend, wo sie sich einst im Alter von neun Jahren den Wirbel gebrochen hatte, puckerten die zertrennten Nerven. Dann hörte sie die wunderschöne, schaurige Musik und versank in der Erinnerung.
13. KAPITEL
W ien, Österreich
22. September 1814
Als die Musik einsetzte, schritt Major Archer Wells, angetan mit seiner prächtigen blauen Gardeuniform samt goldener Ordensspange und Rangabzeichen, galant auf Margaux zu und bat sie um diesen Tanz. Sie ließ sich von ihm auf die schon überfüllte Tanzfläche geleiten. Zwar stand ihr ganz und gar nicht der Sinn nach einem Walzer, doch wenn sie jetzt daheim säße und sich Sorgen machte, wäre Caspar enttäuscht. In Gedanken hörte sie seine tiefe Stimme, spürte sie gleichsam wie eine Umarmung.
Du schaffst das schon!
, sagte er immer.
Du kannst alles schaffen!
Wenn man sich im Ballsaal umsah, konnte man den Eindruck gewinnen, als hätten sich nicht nur sämtliche Größen Europas zum Wiener Kongress versammelt, sondern auch vollzählig zu diesem Galaabend eingefunden. Eingeladen hatte schließlich kein Geringerer als Fürst Klemens Wenzel Lothar von Metternich, der österreichische Außenminister. Die europäische Landkarte nach den verheerenden napoleonischen Kriegen neu zu ordnen, war ein hartes Stück Arbeit. Gleichzeitig aber bot sich so auch ein willkommener Anlass für das gastgebende Wien, sich von der besten Seite zu zeigen – insbesondere angesichts der sechzehntausend Würdenträger und Abgesandten. Die hatten sich nicht nur mit Gattinnen, Mätressen und Dienerschaft in der Hauptstadt einquartiert, sondern obendrein mit ihren eigenen Spionen. Bei so vielen Gästen, so Margaux’ Hoffnung, würde es ihr ja sicherlich gelingen, die benötigten Mittel für eine Such- und Rettungsexpedition für ihren Mann zusammenzubringen. Es
musste
einen Weg geben. Bis zum Vortage war ihr das Herz noch wie zu Eis gefroren gewesen, doch nun zeigte sich ein Hoffnungsschimmer. Und wegen dieser Hoffnung hatte sie endlich das Gefühl, als lebe sie wieder auf.
“Ich sehe mit Freude, dass Ihre Trauerzeit vorüber ist”, bemerkte der britische Offizier, der sie gekonnt beim Tanze führte.
An diesem Abend trug Margaux Niedermeier erstmals seit neun Monaten wieder ihr smaragdgrünes Ballkleid. Die am Tage zuvor erhaltene Nachricht war Anlass genug gewesen, die schwarze Garderobe zusammenzufalten und wegzupacken.
“Sie sind falsch informiert, Major. Ich bin keine Witwe.”
“Pardon, doch selbst bei uns in England hat man die Forschungsreisen Ihres Gatten verfolgt. Wir alle haben von seinem tragischen Tod im Himalaja erfahren.”
Margaux zögerte. Gab es noch einen Grund, die Neuigkeit geheim zu halten? “Das dachte ich auch. Aber erst gestern erhielt ich einen Brief, der mich davon überzeugte, dass Caspar offenbar am Leben ist und von einer Gruppe Mönche in den Bergen wieder gesund gepflegt wird. Ich bin entschlossen, das Geld für eine Suchexpedition zu sammeln und meinen Mann nach Hause zu holen. Genau deswegen bin ich heute Abend hier.”
“Wie schön! Ich gratuliere, Madame. Und da Sie ja so fleißig sind, brauchen Sie etwas Abwechslung. Lassen Sie sich von mir verführen.”
“Ich fürchte, ich bin in Sachen ehelicher Treue zu altmodisch.”
“Treue ist heutzutage als Währung ebenso wertlos wie die Münzen, die Napoleon prägen ließ.”
Gegen ihren Willen musste sie schmunzeln. Wells war charmant, das ließ sich nicht leugnen, doch für Margaux kam eine Liaison nicht infrage. Er hatte ganz recht: sich einen Galan zu halten wurde als Zeitvertreib betrachtet und nicht ernster genommen als eine Partie Whist; außerdem konnte sie ohnehin tun und lassen, was sie wollte. Das war schon immer so gewesen. Caspar hatte ihr beigebracht, was Selbstbestimmung hieß: Eine Frau ist kein Besitz. Seine Vorstellungen waren revolutionär – ein Wort, das in diesen
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