Kerzenlicht Für Eine Leiche
KAPITEL 1
DER TOD hatte im Verlauf der letzten sechs Monate viel Raum in Maurice Appletons Gedanken eingenommen. Als Priester konnte er kaum umhin, über die Sterblichkeit des Menschen nachzusinnen. Doch diesmal war es seine eigene Sterblichkeit. Diesmal wusste er, dass er selbst sterben würde.
Der bevorstehende Tod hatte Maurices Bewusstsein nicht auf wunderbare Weise scharf und klar werden lassen, sondern behinderte im Gegenteil jegliche Konzentration. Jeder Versuch logischen Denkens glitt ihm aus den Händen wie ein sich entrollendes Wollknäuel. Er hatte keine Angst. Stattdessen fühlte er sich wie jemand, der auf den Bus wartet. Er mochte ein wenig Verspätung haben, und nicht selten spürte Maurice milde Verärgerung, weil er hilflos dastand und wartete. Doch er wusste, dass der Bus seine Garage bereits verlassen hatte und auf dem Weg war. Bald würde er eintreffen. Und Maurice würde einsteigen.
Bis dahin verbrachte er einen großen Teil seiner Zeit mit Dösen, jenem angenehmen Zustand zwischen Wachsein und Schlafen, der seine Situation so vollkommen widerspiegelte. Auch nun nickte er wieder ein, gegen Ende des monatlichen Treffens seines Kirchenvorstands.
Die Sitzung, die im Salon seines Bamforder Vikariats stattfand, war wie immer langweilig gewesen. Maurice hatte zum Abendessen (Rindfleisch-Nieren-Pastete, sein Lieblingsessen, und seine Haushälterin machte sie ganz ausgezeichnet) ein Glas Wein getrunken. In letzter Zeit hatte er unter Appetitlosigkeit gelitten, doch an diesem Abend war er hungrig gewesen und hatte die Mahlzeit genossen. Ringsum leierten endlos Stimmen. Worte gingen ungehört an ihm vorbei und verloren sich in den staubigen Ecken des Zimmers. Maurices Kopf sank nach vorn, die Augenlider wurden schwer, und die Brille rutschte auf seinem Nasenrücken nach unten.
»… schlimmer noch«, verkündete eine Stimme, die energischer klang als die übrigen und sich daher einen Weg in Maurices Halbschlaf bahnte, »es ist eine Verschwendung!«
Die Sprecherin war eine hagere Frau mit eisengrauen strengen Locken und der Andeutung eines Schnurrbarts auf der Oberlippe. Die übrigen Mitglieder des Kirchenvorstands rutschten unbehaglich auf dem Sammelsurium unbequemer Stühle hin und her, die für den Abend aus dem ganzen Haus in den Salon gebracht worden waren. Einer oder zwei blickten unverhüllt auf ihre Armbanduhren.
Obwohl wie stets am Ende eines Treffens die Frage
»Gibt es noch etwas zu besprechen?« gestellt worden war, kam es sehr selten vor, dass noch etwas gesagt wurde. Die Frage war zu einer Floskel geworden, wie die Frage bei Hochzeiten, ob jemand Einwände gegen die Eheschließung habe. Bei dieser Gelegenheit aufzuspringen und ja zu sagen, galt als durch und durch unschickliches Benehmen.
Maurice ruckte hoch, und wie um zu beweisen, dass er die ganze Zeit über wach gewesen war, erkundigte er sich grantig:
»Was bitte schön ist eine Verschwendung, Mrs. Etheridge?«
Sie bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick, der deutlich sagte:
»Der alte Knabe hat es wirklich hinter sich. Gott sei Dank, dass er zum Ende des Sommers in den Ruhestand geht. Ich hoffe nur, der Nachfolger hat seine fünf Sinne besser beisammen.«
Laut erwiderte sie mit einer unangenehm schneidenden Stimme, die so sehr zu ihrem Aussehen passte:
»Kerzen, die nach dem Gottesdienst auf dem Altar weiterbrennen, das ist Verschwendung! Was kostet es? Auf jeden Fall ist es eine unnötige Ausgabe.«
Die anderen blickten besorgt drein. Sie fürchteten, dass sie sich länger über diese Angelegenheit ergehen würde und daraus ein völlig neues und kompliziertes Thema entstand, das sie noch wenigstens eine weitere halbe Stunde beschäftigte.
»Schlimmer noch, es könnte ein Feuer geben!« Sie spie die letzten Worte aus, und zur ungemeinen Erleichterung aller setzte sie sich – rot im Gesicht, aber sichtlich triumphierend, wieder hin.
Maurice blinzelte mit wässrig blauen Augen.
»Ich verstehe das nicht, gute Frau! Der Ministrant löscht doch nach jedem Gottesdienst die Kerzen. Das gehört zu seiner Arbeit.«
»Ich habe es mit eigenen Augen gesehen!«, gab sie zurück.
Der rotgesichtige Schatzmeister der Kirchengemeinde, Derek Archibald, meldete sich zu Wort. Seit der Vikar angefangen hatte, während des größten Teils ihrer Sitzungen zu dösen, hatte sich Derek mehr und mehr in die Rolle des De-factoVorsitzenden gedrängt.
»Vielleicht könnte Mrs. Etheridge ein wenig genauer werden?«
Seine humorvolle
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