Der Beethoven-Fluch
zum Scheitern verurteilt?
Beim Tischdecken zitterten ihr dermaßen die Hände, dass sie eine Gabel fallen ließ. Sie blickte hinüber ins Musikzimmer. Beethoven hatte ihr Missgeschick wohl bemerkt; sein Gehör war in jüngster Zeit etwas besser geworden. Er blickte fragend zu ihr herüber, doch sie hob nur die Schultern. Vielleicht, so überlegte sie, sollte sie ihm reinen Wein einschenken und ihm mehr für die Entschlüsselung der Noten bieten als Toller. Ob die von den Rothschilds gebotene Summe wohl sämtliche Kosten abdeckte? Sowohl die für das Angebot der Memoristen als auch die Such- und Rettungsexpedition?
Margaux räumte für sich einen Stuhl leer und schickte sich an, dasselbe für ihren Lehrer zu tun. Als sie Beethovens Mantel von der Stuhllehne hob, bemerkte sie, aus welch grobem Tuch und wie abgetragen er war: Die Säume waren ausgefranst, einige Knöpfe fehlten.
“Sie sollten sich mal einen ordentlichen Mantel zulegen, Herr Beethoven.”
“Ich habe einen. Aber wenn ich spazieren gehe und nicht gestört werden möchte, ziehe ich den alten an und setze den Hut auf, sodass man mein Gesicht nicht richtig sieht. In der Verkleidung eines armen Mannes kann ich die Welt um mich herum unerkannt beobachten und erforschen.”
Vielleicht, so Margaux insgeheim, sollte sie sich an diesem Abend so in Mantel und Hut aus dem Haus schleichen; gut möglich, dass Toller sie dann nicht erkannte. Einen Versuch war es jedenfalls wert. Wenn sie mit Caspar auf Reisen war und die Lage brenzlig wurde, hatte sie sich ja auch immer als Knabe verkleidet; es machte ihr auch keine Mühe, wie ein Mann zu gehen.
Nun lag nur noch ein braunes Wildlederhemd auf dem Stuhl. Als sie es herunternehmen wollte, glitt das weiche Gamsleder zur Seite, und vor Margaux’ Augen erschien der Schatz, der sich einmal als Schlüssel zur erhofften Rettung ihres Mannes erweisen sollte – ihr ganz persönlicher Heiliger Gral.
Ihre Heirat mit Caspar hatte sie in die für Frauen eher ungewöhnliche Lage versetzt, sich in Dinge hineinzuarbeiten, die gemeinhin als Männersache betrachtet wurden. Durch gemeinsame Studien, durch die Lektüre derselben Bücher war ihr Interesse an fremden Kulturen, Legenden und Mythen gewachsen und stand inzwischen dem seinen in nichts nach. Gemeinsam mit Caspar hatte sie davon geträumt, unter den Schichten untergegangener Städte und Zivilisationen nach verborgenen Kostbarkeiten zu graben. Und oft hatte sie sich ausgemalt, einmal auf den sagenumwobenen Schatz der verlorenen Erinnerung zu stoßen.
Während ihrer zwölfjährigen Ehe hatte Caspar sieben Indienreisen unternommen, die sie beide teuer zu stehen kamen. Margaux’ gesamte Mitgift und sein ganzes Erbe waren dabei draufgegangen, sodass sie nunmehr beinahe mittellos waren. Caspar indes war davon überzeugt gewesen, dass er mit jeder Reise dem Ziele näher kam. Er hatte dafür gelebt, eines der Erinnerungswerkzeuge zu finden. Entweder war er bei seinem letzten Versuch nun bereits gestorben, oder sein Schicksal war besiegelt – es sei denn, Margaux konnte das mystische Zauberinstrument einsetzen, um ihn zu retten.
Beethoven kam herüber, um nachzusehen, was sie so beschäftigte. “Ach”, sagte er und hob die Flöte vom Stuhl, “die sollte ich wohl besser weglegen und vor neugierigen Blicken schützen.”
“Nein, bitte nicht”, wisperte sie in einer Mischung aus Bewunderung, Erleichterung und freudiger Erregung, wobei sie ganz vergaß, dass Beethoven ja nicht hörte, wenn sie so leise sprach. “Ich weiß, was das ist.”
“Wie bitte? Was sagten Sie?”
Wie unscheinbar und mürbe die Flöte wirkte! So alt und spröde. Als könnte sie zerbrechen, wenn man sie nur an die Lippen setzte. Knapp sechs Zoll lang und weniger als zwei Zoll im Durchmesser, uneinheitlich dick, leicht gekrümmt, mit sieben in regelmäßigen Abständen gebohrten Löchern in der Mitte und lauter Schnitzereien auf der gesamten Oberfläche. Von diesen seltsamen Schnörkeln hatte Caspar noch in seinem letzten Brief berichtet, ja sogar einige der Muster aufgezeichnet. Doch mit der Dichte und Menge dieser geschnitzten Verzierungen hatte Margaux nicht gerechnet.
“Was sagten Sie eben?”, wiederholte Beethoven etwas ungehalten.
Margaux hob den Blick. “Caspar meinte, sie sei Jahrtausende alt … älter vielleicht als die Bibel … Ihr Fund war der Höhepunkt seiner Laufbahn. Ist Ihnen bekannt, wozu die Flöte dienen soll?”
“Ja. Herr Toller erklärte mir, die Flötentöne sollen
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