Der Beethoven-Fluch
Lobkowitz, der hoch verschuldet seine Zahlungen einstellte, und dann auch noch Fürst Kinsky, der vor ziemlich genau zwei Jahren bei einem Sturz vom Pferd umkam.” Er streckte die Hand aus und fuhr mit den Fingerspitzen leicht am Rand ihres Ausschnitts entlang, ohne den Stoff zu berühren.
Auch das wollte sie gerne erdulden. Für Caspar. Alles um Caspars willen. Während andere Damen die Galane wechselten wie ihre Kleider, kannte Margaux nur ein einziges Ziel, für das sie Berge versetzt hätte: ihren in Indien verschollenen Mann zu finden und nach Hause zu holen. Aber um das zu schaffen, brauchte sie diesen Major und das Geld, das die Rothschilds ihr für die Flöte und die Melodie boten.
Als die Klavierstunde zu Ende war, schlug Margaux ihrem Lehrmeister einen Imbiss vor. Sie hatte sich angewöhnt, ihm seine Lieblingsspeisen zum Unterricht mitzubringen: guten Wein, Brot, Käse und Obst.
“Erst den Wein”, bat er. “Holen Sie ihn am besten her; ich wollte Ihnen ein Stückchen aus meiner neuesten Sinfonie vorspielen.”
Margaux brachte ihm ein volles Glas ans Klavier, nach wie vor entsetzt über des Maestros Schlampigkeit. Nie speiste und trank er am Tisch, sondern ließ Gläser und Geschirr wahllos auf oder unter der Klavierbank stehen oder gar auf dem Deckel. Selbst sein Nachttopf stand zuweilen herum. So abstoßend sie diese Schludrigkeit auch fand – die Musik ließ Margaux über Nachlässigkeit und Unordnung hinwegsehen. Durch seine Kunst überragte Beethoven alle anderen.
Den Wein in der Linken, ließ er die Finger der Rechten spielerisch über die Tasten tanzen. Er leerte das Glas mit einem Zug, stellte es ab und begann, beidhändig zu spielen – stakkatoartig, schwungvoll, zärtlich, tröstend und erregend, alles auf einmal. Margaux war tief bewegt.
Nachdem er geendet hatte, saß er da, den Blick auf die noch über die Tasten gespreizten Finger gerichtet. “In letzter Zeit ist mein Leben ein wenig heller”, murmelte er, ohne Margaux anzuschauen. “Seit meiner Bekanntschaft mit Ihnen. Ich glaube, Sie können sich nicht vorstellen, wie traurig, wie ungeheuer freudlos mein Dasein während der letzten zwei Jahre war. Meine Taubheit begleitet mich überall hin wie ein Gespenst. Ich bin vor der Gesellschaft geflohen, ja, bin regelrecht gezwungen, den Menschenfeind zu geben. Ich hoffe, Sie wissen inzwischen, dass das nicht in meiner Natur liegt.”
“Ich fühle mich geehrt. Mehr als ich sagen kann.”
Er hörte sie nicht; sie hob sein Kinn an, sodass er sie anblicken musste, und wiederholte den Satz. Beethoven lächelte, und in diesem Moment erkannte Margaux: Ihr Plan konnte nicht fehlschlagen.
“So, wollen wir jetzt einen Happen essen?”, fragte er, mit einem Male voller Energie.
Auf dem Weg zum Esstisch kam sie am Fenster vorbei und bemerkte beim Hinausschauen einen Mann, der unten, direkt gegenüber, im Schatten eines Hauseingangs stand. Wenn auch nur im Profil zu sehen, kam er ihr bekannt vor: scharfe Nase, leicht hängende Schultern. Aufmerksam spähte Margaux in das Halbdunkel, dabei einen Schritt zurücktretend, um nicht gesehen zu werden, falls er zufällig hochblickte. War das wirklich der Kompagnon ihres Mannes? Dann drehte er sich um, und sie erkannte Tollers hohlwangiges Gesicht, die leblosen Augen. War er ihr auf die Schliche gekommen? Wie konnte das sein?
Nun, die Antwort war ganz einfach. Die Außenminister der fünf Großmächte mitsamt ihren Lakaien waren in Wien versammelt, um über die Zukunft Europas zu bestimmen. Und da keiner dem anderen über den Weg traute, war Spionieren ein ebenso selbstverständlicher Zeitvertreib wie der Wiener Walzer. Hinter jedem Kammerdiener, jeder Zofe und jedem Hausknecht konnte sich ein Spitzel verbergen. Abfall wurde zu Höchstpreisen gehandelt, weil sich zwischen Kartoffelschalen und Suppenknochen womöglich wertvolle Papierschnitzel aus dem Müll herausklauben ließen. Eine Einkaufsliste aus dem Umfeld des russischen Zaren brachte mehr ein als Tafelsilber, denn es war ja möglich, dass der Zettel ein verschlüsseltes Kommuniqué enthielt.
Durchaus möglich, dass Toller solch einen Spion gedungen hatte, der sie nun beschattete und ihre Verabredungen überwachte, ohne dass sie selber es merkte. Jedenfalls nicht bei den vielen Menschen, unter denen sie sich in letzter Zeit bewegte, nicht bei den zahlreichen Besuchern ihres abendlichen Salons. Aber konnte sie ihre Aufgabe unter Tollers wachsamem Blick überhaupt bewältigen? War ihr Plan schon
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