Der Beethoven-Fluch
skulpturengeschmückte Denkmäler und Mausoleen mit aufragenden Dächern. Vogelgesang und der Duft immergrüner Pflanzen erfüllten die Luft. “Hier ist es ja wunderschön!”, flüsterte Meer überrascht.
“Ja, nicht wahr? Kein Vergleich zu Friedhöfen in anderen Ländern. Zum Tod hatten die Wiener schon immer eine besondere Beziehung. Man hat ihn herausgeputzt, ihm musikalische Werke komponiert, in der Kunst Denkmäler gesetzt … Es gibt sogar ein Museum, das dem Tod gewidmet ist.”
“Was gibt es denn in so einem Museum zu sehen?”
“Bestatter-Utensilien, Särge, Trauerschärpen, Urnen … Die hohe Kunst der Bestattung im Wandel der Jahrhunderte. Eines meiner Lieblingsobjekte ist das Glöckchen, das einem Toten mit in den Sarg gegeben wird. Stellt ein wieder erwachter Scheintoter fest, dass er lebendig im Sarg liegt, kann er mit der Klingel auf sich aufmerksam machen. So, da wären wir”, sagte er und öffnete ein verrostetes Törchen. Meer folgte ihm hinein in eine verwilderte, ungepflegte Wüste. Zahlreiche Denkmäler waren umgestürzt und zerbrochen; Unkraut überwucherte jede ehemals gepflegte Grabbepflanzung. Verglichen mit der übrigen Friedhofsanlage wirkte alles völlig verwahrlost.
“Warum lässt man das alles so verkommen?”
“Der riesige Zentralfriedhof steht allen möglichen Konfessionen offen – unter anderem Katholiken, Protestanten, Russisch-Orthodoxen und eben auch Juden. Bis auf die jüdische Abteilung wurden alle Gräber von den Hinterbliebenen der Verstorbenen gepflegt.” Jeremy musste den Weg verlassen, um einem umgekippten Grabstein auszuweichen. “Aber von den österreichischen Juden haben ja kaum dreitausend den Zweiten Weltkrieg überlebt”, fuhr er fort. “Und in der Nachkriegszeit sind Juden erst ganz allmählich zurückgekehrt. Also hat hier während der letzten sechzig Jahre niemand die Grabpacht bezahlt oder die Grabpflege übernommen. Neuerdings hat sich die österreichische Regierung verpflichtet, unseren Friedhof wieder instand zu setzen – nicht zuletzt auch dank der Bemühungen von Fremont Brecht. Sagenhaft, wie er sich für das österreichische Judentum einsetzt. Noch vor fünfzehn Jahren war er eine allseits geachtete Persönlichkeit des öffentlichen Lebens gewesen, zudem aus einer katholischen Familie stammend. Dann brachte er unter dem Titel
‘Unsere geheime Geschichte’
seine Memoiren heraus. Darin schilderte er nicht nur den tief verwurzelten Antisemitismus in Österreich – sondern lüftet auch seine verborgene jüdische Herkunft.”
“Wie hat er das denn geschafft? So lange zu verheimlichen, dass er Jude ist?”
“Das hat er bis zum Tode seines Vaters selber nicht gewusst. Erst da stellte sich heraus, dass seine Mutter Jüdin war. Sie starb bei seiner Geburt, und sein Vater heiratete vier Monate später eine nichtjüdische Witwe. Hätte diese zweite Ehe die Vergangenheit nicht so perfekt kaschiert, wäre Fremont möglicherweise als kleiner Junge deportiert worden.”
“Wie fiel denn die Reaktion auf das Buch aus?”
“Es war ein Skandal. Rüttelte viele Menschen auf. Wie von Brecht selber befürchtet, löste es heftige antisemitische Äußerungen aus, aber das bestärkte ihn nur in seiner Entschlossenheit, sich für die Akzeptanz und Wiederherstellung des reformierten Judentums einzusetzen. Das tut er seitdem unermüdlich.”
“Aber?”
Jeremy sah seine Tochter fragend an.
“Du verschweigst mir doch etwas, Dad. Das höre ich dir doch an.”
Er hob hilflos die Schultern. “Das ist zwischen Fremont und mir ein ständiger Zankapfel. Nach seiner Auffassung sollte sich das Judentum in einem Land, dem man immer noch unterschwelligen Antisemitismus unterstellt, einen modernen und fortschrittlichen Anstrich geben.”
“Und du?”
“Ich finde, er erweist uns Juden damit keinen Dienst. Das Mystische stellt einen bedeutenden und anerkannten Teil unserer Religion dar.”
Inzwischen stießen sie an einen abgesperrten Bereich rund um ein frisch ausgehobenes Grab. Doch außer den Friedhofsbediensteten, die rauchend seitab standen und offenbar auf das Ende der noch nicht einmal begonnenen Beerdigung warteten, war kein Mensch zu sehen. Jeremy sprach die Männer an, derweil Meer die Namen und Lebensdaten auf den verwitterten Grabsteinen zu entziffern versuchte.
“Wir sind zu früh dran”, erklärte ihr Vater, der wieder zu ihr getreten war. “Andauernd komme ich zu früh zu Beerdigungen. Wahrscheinlich aus Angst, ich könnte die Toten warten
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