Der Beethoven-Fluch
im Innersten ergriffen wurde von der Musik. Vertraut und beklemmend und wunderschön.
Es funktionierte! Sie erinnerte sich!
Der Donner dröhnte so laut, als würde der Himmel bersten. Margaux’ Pferd bäumte sich auf, aber sie blieb im Sattel. Durch den strömenden Regen hindurch erkannte sie schemenhaft den heranpreschenden Reiter. Sie hieb ihrem Gaul die Sporen in die Flanken und trieb ihn weiter an. Gleichzeitig griff sie in ihre Manteltasche und schloss die Finger um den kalten Griff der Pistole. Solange sie die Waffe hatte, konnte ihr nichts geschehen …
“Nein!”, rief Meer und hielt sich die Ohren zu. “Bitte nicht!”
Der Reiter näherte sich von rechts, die Pistole bereits im Anschlag. “Sie dummes Ding!”, schrie Major Wells durch den nächsten Donnerschlag. “Wir haben eine Abmachung! Halten Sie sich gefälligst daran!”
Umständlich zückte Margaux nun ihrerseits die Waffe und richtete sie auf ihren Widersacher, dabei verzweifelt bemüht, ihre zitternde Hand ruhig zu halten.
“Nein, bitte nicht!” Ein Schmerz durchzuckte Meer wie flüssiges Feuer. Solche Erinnerungen wollte sie nicht! Nicht hier, nicht jetzt! Aber der Ansturm der Bilder ließ sich nicht aufhalten.
Meer merkte, dass ihr Vater nur ahnen konnte, aus welchem Grund sie sich dermaßen quälte. Anscheinend aber spürte er wohl, dass es mit der Musik zu tun haben musste – mit jenen Tönen, denen er bereits zeit ihres Lebens verzweifelt nachjagte, um sie seiner Tochter vorzuspielen. Sie sollte sie unbedingt hören. Ihre Qualen allerdings mochte er offenbar nicht länger mit ansehen. Hektisch griff er durch die Gitterstäbe hindurch, jedoch nicht etwa nach dem Schlüssel, sondern nach der Flöte, um Sebastian am weiteren Spielen zu hindern.
Der schubste Jeremy so heftig zurück, sodass er rückwärts taumelte, ins Stolpern geriet und mit dem Kopf gegen die Zellenwand krachte.
Ausweglos zwischen Gegenwart und Vergangenheit gefangen, konnte Meer nicht schnell genug reagieren, um Sebastian die Schlüssel selber zu entreißen. Als sie dann endlich den Arm ausstreckte, war er bereits von der Gittertür zurückgewichen. Hinter sich hörte sie ihren Vater stöhnen und wirbelte herum.
“Daddy …”
Er gab keine Antwort. Sie sprach ihn erneut an, doch er reagierte immer noch nicht. Hallende Schrittgeräusche verrieten ihr, dass Sebastian offenbar durch den Tunnel davonrannte.
“Daddy?”
Weiterhin keine Reaktion. Das Ohr an Jeremys Brust gepresst, lauschte sie krampfhaft auf seinen Herzschlag. Er war inzwischen so schwach wie das sich entfernende Echo von Sebastians Schritten.
“Daddy?”
Diesmal zuckten die Wimpern. Langsam schlug er die Augen auf und lächelte matt, als verspreche er ihr auch weiterhin Schutz und Trost. “Alles in Ordnung … Nur mal kurz überlegen …” Hustend hielt er inne. “Wir müssen hier weg! Ich glaube, der Kerl hat den Gashahn aufgelassen. Er hat ihn ja nicht wieder zugedreht, oder? Guck doch mal nach … Eigentlich müsste man es am Stellrad erkennen können!”
“Stimmt! Großer Gott, ja, du hast recht!”
“Dann aber nichts wie raus hier!”
Plötzlich fiel ihr ein, dass sie ja ihr Handy dabei hatte. Wieso hatte sie nicht eher daran gedacht? Kostbare Zeit war vertan! Sie rappelte sich hoch und schaute sich forschend nach ihrer Tasche um, die achtlos in einer Ecke lag. Grenzenlos erleichtert, dass die Rettung nahe war, holte sie ihr kleines silbernes Telefon heraus, klappte den Deckel auf und wartete auf das Signal. Die Zeitangabe verriet ihr, dass es kurz vor ein Uhr Mittag war.
Ein Balken. Zwei. Jetzt würde bald alles gut werden. Es war so einfach!
Dann verschwanden die Balken, und im Display erschien der Hinweis “Kein Signal”.
“Nein!” Sie schaltete das Gerät aus und gleich wieder ein. Wartete abermals auf das Netz – und wieder vergebens.
“Wir sind zu tief unten”, flüsterte ihr Vater heiser.
81. KAPITEL
K onzertgebäude des Musikvereins
Donnerstag, 1. Mai – 14:00 Uhr
Das Schrillen der Alarmanlage schreckte jedermann hoch bis auf Bill Vine. Der ließ sich von dem ohrenbetäubenden Getöse nicht aus der Ruhe bringen, sondern klappte schon vor dem ersten Klingelton sein Handy auf, als würde er bereits mit einem fernmündlichen Bericht über die Ursache des Alarms rechnen. “Rapport, aber dalli!”, bellte er in das Mobiltelefon, wobei er es etwas vom Ohr abhielt, damit Tom Paxton mithören konnte.
“Vermutlich Sicherheitsverstoß am Hintereingang”,
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