Der Beethoven-Fluch
vielmehr daran gelegen, dass die Flötenmusik keinem Menschen zu Ohren kam. Genau da musste sie ansetzen: warnen und sicherstellen, dass niemand das Geheimnis der Musik an sich riss.
Meer kämpfte sich durch das im Gang herrschende Gewühl bis ganz nach vorn durch. Dort angelangt, kletterte sie auf das Bühnenportal und zwängte sich durch das Tohuwabohu aus Musikern, die ebenso angeschlagen und konfus wirkten wie ihr Publikum. Einer wälzte sich schreiend am Boden und schlug dabei mit den Händen um sich, als stehe er in Flammen. Wieder einer war unter seinen Stuhl gekrochen und hockte dort, die Hände vors Gesicht geschlagen, wie in Erwartung eines unsichtbaren Bösewichts, wobei er in einer für Meer unverständlichen Sprache immer wieder denselben Satz brabbelte. Einige Orchestermitglieder wirkten körperlich betroffen, andere offenbar psychisch angeknackst. Die wenigen, denen die Flötenklänge anscheinend nichts anhaben konnten, versuchten, ihren betroffenen Kolleginnen und Kollegen zu helfen.
Meer beachtete sie nicht weiter, sondern bewegte sich auf Sebastian zu, der unverdrossen weiterspielte, unbeeindruckt von dem ringsum tobenden Chaos. Da er die Augen geschlossen hielt, bemerkte er Meer nicht, sah nicht, wie sie nach der Flöte griff … und spürte es erst, als sie versuchte, ihm das Instrument zu entreißen.
Da schlug er die Augen auf und begriff, wen er vor sich hatte. Ohne die Flöte abzusetzen, hielt er sie verzweifelt fest und blies die nächsten Noten. Meer musste kämpfen, um in der Gegenwart zu bleiben, musste sich mit aller Kraft auf das Jetzt konzentrieren. Mit jedem Atemzug spürte sie, wie der Schmerz in ihrem Rücken schlimmer wurde.
“Hören Sie auf, Sebastian!”, rief sie. “Sie können nicht dauernd wieder von vorne anfangen! Es reicht! Los, her mit der Flöte!”
Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, wie sich ein halbes Dutzend Uniformierter zur Bühne durchzwängte. Auch Sebastian sah die Polizisten, und für einen Augenblick lösten sich seine Finger von der glatten, beinernen Röhre. Blitzschnell griff Meer zu. Sie entwand ihm die Flöte und verbarg sie unter ihrer Lederjacke. Dann wich sie zurück vor den sechs Beamten, die nun, ohne Meer überhaupt zu beachten, die Bühne stürmten und Sebastian umstellten. Hatten sie, so durchfuhr es Meer, etwa nicht mitbekommen, dass sie inzwischen im Besitz der Flöte war? War ihnen nicht klar, dass der Oboist vorhin ein völlig artfremdes Instrument in Händen gehalten hatte? Eigentlich konnte das nicht sein; sie hatte Fieske ja eingeweiht. Aber möglicherweise hatte er nicht mehr die Zeit gefunden, noch alle Kollegen genau zu informieren. So oder so – sie hatte keineswegs die Absicht, hier abzuwarten, wie die Sache ausging.
Schritt für Schritt wich sie zurück, ohne dass die Polizisten etwas unternahmen. Drei bewachten Sebastian; die anderen gingen dazu über, sich um die psychisch angeschlagenen Musiker und Besucher zu kümmern.
Meer war untröstlich. Ihr Vater war tot, und zwar durch die Schuld von Sebastian Otto. Der hatte sich an ihr, an ihrem Vater, an den Konzertbesuchern aufs Schrecklichste versündigt – doch gleichzeitig auch das Geheimnis enträtselt, das Meer ein ganzes Leben lang schon verfolgte. Was sie da unter der Jacke verborgen hielt, war alles, was von Devadas übrig geblieben war. Es hatte Caspar den Tod und ihren Vater in Lebensgefahr gebracht. Niemand sollte es ihr ein zweites Mal nehmen! So bestürzt sie jetzt auch sein mochte – eines war ihr auf einmal klar: Früher, durch ganze Lebensepochen hindurch, hatte sie die Verantwortung getragen für diesen Gegenstand, dessen Hüterin sie nun aufs Neue war. Und diesmal wollte sie diese Flöte der untergegangenen Erinnerungen zum Guten einsetzen, unter allen Umständen und koste es, was es wolle. Das war ihr Karma, ihre spirituelle Bestimmung. Früher genauso wie heute.
101. KAPITEL
D onnerstag, 1. Mai – 20:25 Uhr
David begriff: Die Sinfonie dort oben lief total aus dem Ruder – und sein Plan gleich mit. Noch konnte er klappen, doch nun zählte jede Sekunde. Nur hatte David immer noch das Gefühl, als zerplatze ihm jeden Moment der Schädel. Die Schmerzen waren zu stark, die Trauer ebenso. Eine Frau mit schwarzem Haar und mandelförmigen grünen Augen geisterte ihm durch den Kopf … Ohana … ihr Vater … und … unmöglich! … sein eigener Tod! Inzwischen haltlos weinend, griff er nach dem Zündkabel.
Bemüht, sein Zittern zu unterdrücken, nestelte er an
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