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Der Beethoven-Fluch

Der Beethoven-Fluch

Titel: Der Beethoven-Fluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M.j. Rose
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mitzuteilen: Wenn du deine Tochter opferst, beleidigst du die Götter. Ihr Zorn wird über dich und dein Dorf kommen.” Die Worte schmeckten bitter, doch Devadas wusste, es war der einzige Weg, um Ohana noch ihrem Schicksal zu entreißen.
    Der Alte musterte ihn verächtlich. “Ach, und wieso?”
    “Weil die Götter eine Jungfrau verlangen.”
    Sein Gegenüber zuckte zusammen, das Gesicht eine kalte, grimmige Maske. “Was willst du damit andeuten?”
    “Dass Ohana keine Jungfrau ist.”
    “Wie kannst du es wagen?”
    “Es ist die Wahrheit.”
    Sunil stand reglos wie die Berge am fernen Horizont. “Woher weißt du das?”
    “Ich bin der Mann, der ihr beigewohnt hat”, flüsterte Devadas schamerfüllt – nicht etwa deswegen, was er Ohana angetan hatte, sondern weil er jene süßen Augenblicke durch den Gebrauch gewöhnlicher Wörter entweihte.
    Sanft klatschten die Wellen ans Ufer. Ein einsamer Vogel schwang sich mit flatterndem Flügelschlag in die Luft. Irgendwo in der Ferne schlug warnend ein Hund an.
    “Meine Tochter …” Nur mit Mühe würgte Sunil die Worte hervor, als habe er Angst, sie könnten ihm die Lippen versengen. Stockend setzte er abermals an. “Meine Tochter wurde bereits als Kind einem Manne versprochen …” Dann stutzte er, als müsse er das Gehörte erst verarbeiten. “Meine Tochter war einem anderen versprochen, und du hast ihr die Unschuld geraubt? Du, der du ein junges Weib besitzt und eigene Kinder?”
    Wie hätte Devadas sein Tun rechtfertigen sollen? Wenngleich aus seinem Heim gewiesen, war er ja weiterhin vermählt. Wie sollte er erklären, was es bedeutete, mit Ohana zusammen zu sein? Wie jenes Gefühl erklären, als habe seine Seele von Anfang an auf sie gewartet? Er sah Sunil an den Augen an, dass er nicht vergebens hergekommen war. Sunil glaubte ihm. Ohana würde verschont werden.
    Der Hieb traf ihn wie aus heiterem Himmel. Sunil war zwar älter, aber er hatte die Wut der Verzweiflung auf seiner Seite. Der Felsbrocken erwischte ihn an der Schläfe, und Devadas sackte zusammen. Er lag am Boden, blickte auf den Tobenden. Er hätte Sunil noch mit Leichtigkeit von den Beinen holen können. Ein lebenslanger Grundsatz hielt ihn indes davon ab: Habe Achtung vor den Älteren, auch wenn du nicht ihrer Meinung bist! Genau in diesen kurzen Augenblicken, in denen er mit sich rang, ob er diese Regel jetzt noch befolgen sollte, genau in diesem Moment ließ Ohanas Vater ein zweites Mal den schweren Stein auf ihn niedersausen. Der Schlag gab Devadas, der ohnehin am Rande der Ohnmacht war, den Rest.
    Gelähmt, geblendet durch das Blut in seinen Augen ahnte Devadas: Es war aus. Hier, auf der Landstraße, im ersten Morgengrauen, würde er sterben. Durch seine Schmerzen hindurch glaubte er, seine Ohana zu sehen. Oder war es nur ein Wunschtraum? Er wollte ihr sagen, dass sie nicht weinen sollte, dass er es gern getan hatte. Dass er sein Leben und seine Liebe mit Freuden für sie hingegeben hatte. Er fühlte keinerlei Schmerzen mehr, spürte nicht mehr den Stein, mit dem Sunil in seiner Raserei noch immer auf ihn einschlug. Nichts tat mehr weh. Stattdessen überkam ihn jenes große, erhabene Gefühl, dass er jemandem das Leben rettete. Mehr konnte keiner von ihm verlangen. Ihm war Gelegenheit gegeben, dieses Opfer zu bringen, und möglicherweise hatte er eigens so gelebt, damit er auf diese Weise sterben und Ohana vor dem Tode retten durfte. Jeder Mensch lebte zu einem ganz bestimmten Zweck, und diesen Zweck zu begreifen, das war eine Gabe. Diese Gabe nahm er mit sich, als er diese Welt verließ und hinüberwechselte in jene Dunkelheit, wo Vergangenheit und Gegenwart zu einer neuen Dimension verschmolzen.

100. KAPITEL
    W ien, Österreich
    Donnerstag, 1. Mai – 20:23 Uhr
    Meer sah, wie ein übergewichtiger Smokingträger auf sie zustürmte und sie niederzuwalzen drohte, falls sie nicht rechtzeitig aus der Bahn floh. Aber wohin? Sie steckte ja im Gewühl fest! Im Vorbeidrängen schubste er sie grob beiseite, sodass sie aus dem Gleichgewicht geriet und heftig mit dem Bein gegen eine Sitzkante stieß. Durch den stechenden Schmerz hindurch hörte sie, wie der nächste Flötenton die Luft zerriss, herrlich und grausig zugleich auf eine Weise, die nichts mehr zu tun hatte mit normaler Musik. Es war, als zerplatze der Klang in einen schillernden Funkenschauer, der Meer zurückzog zu Margaux, zurück in das Gewitter.
    Als Major Wells die Pistole hob und die Mündung auf Margaux’ Brust richtete,

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