Der Bernstein-Mensch
Sonne brannte ein sauberes, hartes Loch in den sie umgebenden Raum.
Klick. Jupiter.
Klick. Klick. Klick.
Als er einmal frei war, glitt der Vogel langsam aufwärts. Den rotierenden Pfannkuchen oben hatte man beiseitegezogen, und die Flugüberwachungssensoren in der Bay konnten jetzt durch die Höhlung des Orb hindurch ins All hinaussehen. Ein Kreis von Sternen drehte sich munter in der Nacht.
„Fragst du dich nicht, ob er den Rückweg überhaupt schafft?“ sagte Bradley zu Mara. Er hatte darauf gewartet, daß sie etwas sagte, daß sie eine Reaktion auf Coreys Abreise erkennen ließ, aber sie kritzelte lediglich auf einem Block herum.
„Ich denke schon“, sagte sie zerstreut. Ringsumher hörte man das ruhige Treiben der Flugüberwachung, eingehüllt von gedämpftem, rötlichem Licht. In den schalltoten Nischen der Konsolen drängte sich die Besatzung und verfolgte das langsame Auslaufen der Aurora.
„Was machst du da?“ fragte Bradley schließlich.
„Anti-Kryptographie. Ich bin mit dem Puzzle beschäftigt.“ Sie warf ihm einen verschmitzten Blick zu. „Wieso? Meinst du, es gehört sich nicht für mich, Coreys Start zu ignorieren?“
„Nein, aber …“
„Ich will dir ein Problem stellen. Etwas, um dich abzulenken. Er wird nämlich eine lange, energiesparende Ellipsenbahn steuern, weißt du.“ Sie schrieb eine Reihe von Zahlen auf das Blatt:
8 5 4 9 1 7 6 10 3 2
„Aufgabe für den Studenten: Nach welchem System sind diese Zahlen geordnet?“
Bradley spitzte die Lippen. „Ich bin nicht gut in solchen Sachen.“
„Versuch’s wenigstens. Du bist doch zur Schule gegangen, als die Leute noch Jahre damit zubrachten, Arithmetik zu lernen, oder? Bevor die moderne Erziehung überhaupt existierte.“
„Das könnte man sagen.“
„Das würde ich sagen. Du bist wirklich unglaublich alt. Was ist das für ein Gefühl?“ Sie sagte das mit einfacher, offener Neugier.
„Was ist es für ein Gefühl, scheinbar immer schon alt gewesen zu sein?“
„Nicht dasselbe. Du warst auch einmal jung.“
„Wirklich?“
„Klar, ich habe über deine Zeit gelesen. Du bist aufgewachsen, als es noch diese Love-ins und so etwas gab, nicht wahr?“
„Ganz so alt bin ich nicht. Ich kam gerade rechtzeitig für die Hungersnöte.“
Mara lächelte. „Du willst mich hinhalten. Versuch dich an meinem Problem.“
„Ich gebe auf. Ich habe meine intellektuelle Ader schon vor langer Zeit verloren.“
„Bis jetzt hat es noch niemand auf Anhieb herausbekommen. Nicht einmal Vance. Der Haken bei der Sache ist, daß dies zwar Zahlen sind, aber daß ihre Reihenfolge mit Arithmetik nichts zu tun hat. Man muß den normalen Kontext des Systems verlassen, um es zu sehen.“
„8, 5, 4 … oh, ich verstehe. Alphabetische Reihenfolge, Englisch.“
„Genau.“ Mara wirkte seltsam erfreut. „Und ich versuche zu lernen, so zu denken. Kontexte zu verlassen.“
Bradley merkte, daß Vance neben ihm stand. Wie lange der Mann schon dagestanden hatte, wußte er nicht.
„Sie haben es schneller gelöst als ich“, sagte Vance mit gleichförmiger Stimme und ohne jede Betonung. „Ich habe über zwanzig Minuten gebraucht.“
Bradley lächelte und gab irgendeine unverbindliche Antwort, aber er bemerkte die feinen Falten im Gesicht des jungen Mannes. Er kannte Vances Akte und sah in ihm den Typus des pflichtbewußten, braven Jungen, der eine natürliche Zielscheibe für Maras Hänseleien war. Mit einem Blick begriff Bradley, daß Vances einzige Verteidigung seine Geduld war, und die innere Überzeugung, daß er am Ende siegreich bleiben würde. Er würde das Puzzle selbst lösen.
Bradley lächelte wieder und machte einen kleinen Scherz, der sie beide zum Lachen brachte. Von der Brücke her wandten sich ihnen Köpfe zu; dies war kein Ort für Fröhlichkeit. Bradley winkte ihnen, sich wieder ihrer Arbeit zuzuwenden. Er hatte das ständig wachsende Empfinden, daß die dynamische Spannung, die er haben wollte, jetzt arbeitete, daß die Kräfte in Mara und Vance und den anderen sich jetzt endlich erweisen würden. Einer von diesen beiden hier würde sehr wahrscheinlich das Puzzle lösen, und es war so gut wie sicher, daß dieser eine nicht der ruhige, ausgeglichene, ehrgeizige Vance war.
6
Ihrem sorglosen, lebhaften Verhalten zum Trotz konnte Mara, wie Bradley bemerkte, sich nie für lange aus der Flugüberwachung entfernen. Je näher die Aurora auf ihrer elliptischen Bahn dem Schnittpunkt mit der Jupiter-Atmosphäre
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