Der Bernsteinring: Roman
zugeordnet. Inzwischen ergab es endlich einen Sinn. Ob es der war, den die Schreiberin wirklich verfolgt hatte, war allerdings eine ganz andere Sache.
»Sag mal, wie ist Julian eigentlich an dieses Stundenbuch gekommen?«
Rose konnte meine Gedanken inzwischen recht gut lesen.
»Wenn ich das wüsste.«
»Es muss doch im Stift von Sankt Maria im Kapitol gelegen haben, als Anna umkam!«, stellte Cilly fest.
»Wenn diese Anna Dennes, die als Verfasserin zeichnet, tatsächlich auf diese Weise umgekommen ist.« »Ja, aber...«
»Cilly, es ist eine erfundene Geschichte. Die Wahrheit kann eine völlig andere gewesen sein. Vielleicht hat sie einfach die Lust daran verloren. Oder sie durfte nicht weiter daran arbeiten.«
»Oder sie hat das Stift verlassen. Oder ist an einer Grippe gestorben. Oder, oder, oder...«
»Trotzdem, das Buch stammt aus dem Stift. Wie ist euer Vater dran gekommen?«
»Neugieriges Kätzchen!«, schimpfte ich sie lächelnd, aber Rose unterstützte sie.
»Sie hat aber Recht, es wäre schon interessant, das zu wissen. Klöster und Stifte sammeln doch eher solche Kunstwerke, als sie unter die Menschheit zu bringen.«
»Die einfachste Erklärung wäre, dass es zum Zeitpunkt der großen Säkularisierungswelle Anfang des neunzehnten Jahrhunderts irgendein Sammler aufgeklaubt hat.«
»Säkulari –was?«
»Verweltlichung, in diesem Fall Auflösen von geistlichem Besitz. Nach der französischen Revolution gab es eine Phase, in der Klöster und Stifte aufgelöst wurden und die Kirchen ihr Vermögen verloren. Damals sind zahlreiche Kunstwerke vernichtet worden. Kostbare Altäre wurden zu Brennholz verarbeitet, Gemälde auf den Müll geworfen, Bibliotheken geplündert. Es gab aber ein paar Leute, die erkannt haben, welche Werte da plötzlich herrenlos herumlagen. Und die haben gesammelt, was das Zeug hält. In Köln war das zum Beispiel Friedrich Wallraf, der sich auf diese Weise eine gewaltige Kunstsammlung zugelegt hat. Heute findest du die Sachen im Wallraf-Richartz-Museum. Die BrüderBoiseré taten das Gleiche. Ihre Sammlung bildete den Grundstock für die Alte Pinakothek in München.«
»Und etliche andere haben sich vermutlich ebenfalls an den Schätzen bedient!«
»Natürlich. Zum Teil standen oder lagen die Sachen einfach am Straßenrand. Viele kleinere Sammlungen gibt es natürlich auch noch, meist in Privatbesitz. Möglicherweise hat einer unserer Vorfahren ebenfalls eine solche besessen.«
»Anita, was ist mit den beiden Ringen passiert? Schimpf mich nicht gleich wieder, ich würde die Geschichte für viel zu wahr halten. Aber der Siegelring ist doch ein Erbstück, hast du gesagt.«
»Ich schimpfe nicht, Cilly. Und deine Frage ist ziemlich gut, weißt du.«
Ich versuchte mich zu erinnern, was in dem Brief stand, mit dem ich nach Julians Tod den Siegelring mit der Pferdchengemme erhalten hatte. Aus dem Gedächtnis zitierte ich dann: »Als meine Eltern starben, erhielt ich als Erbstück von meiner Mutter diesen Ring. Er ist seit vielen Generationen in der Familie und wurde offensichtlich regelmäßig an die älteste Tochter weitergegeben. Soweit ich von meiner Mutter weiß, war die Erste, die ihn trug, meine Ururgroßmutter Graciella Coloman. Sie muss so um die Zeit Napoleons gelebt haben, wenn ich es richtig nachgerechnet habe. Doch der Siegelring selbst ist sehr viel älter.«
»Julians Ururgroßmutter hieß Graciella Coloman? Anita, ich bekomme eine Gänsehaut!«
»Coloman...«, flüsterte ich
»Graciella...«, sagte Cilly mit großen Augen
»Julian war ein Meister der Webkunst«, stellte Rose fest.
»Und ich werde mal ein wenig Ahnenforschungbetreiben müssen. Irgendwo in Julians Unterlagen gibt es Familiendokumente, Daraus sollte man einen Stammbaum ableiten können. Jene Graciella Coloman passt hübsch in die Sammlertheorie hinein. Mann oder Vater könnten da einiges zusammengetragen haben, und antike Gemmen sind durchaus im Besitz von Kirchen und Klöstern denkbar.«
»Vor allem, wenn sie von Stiftsdamen an Matronen- steinen gefunden werden...«
»Ja, eine glaubhafte Version«, stimmte ich ihr lächelnd zu.
»Wär doch schön, wenn du auf eurem Dachboden noch eine Sammlung alter Kunstwerke finden würdest. Stundenbücher, Monstranzen, Altarbilder und was dergleichen Gelersch damals entsorgt werden sollte!«
»Cilly, unser Dachboden wurde vor zwanzig Jahren gebaut, darin befinden sich nur ein paar zerschrammte Möbelstücke, die unmodernen Kleider meiner Mutter und ein paar
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