Der Bernsteinring: Roman
ist.«
»Rosa, wer ist eigentlich der heilige Vitus? Das wollte ich dich schon dauernd fragen.«
»Der Schutzpatron der Tänzer und Schausteller.« »Zu denen du gehört hast?«
»Ja, Anna, zu denen ich gehört habe. Mein Vater war ein Theriakhändler, meine Mutter eine Tänzerin. Wir zogen mit einer Gruppe Fahrender durch die Lande. Ich bin ziemlich weit umhergereist, in meinen ersten fünfzehn Jahren, weißt du.«
»Bis nach Neapel, ja.«
Rosa lachte vergnügt auf.
»Wo ich die Sprache ein wenig aufgeschnappt habe, sicher.«
»Was für ein aufregendes Leben.«
»Ja, das war es wohl. Viel aufregender, als in einer zugigen alten Burg Hemden zu besticken. Viel aufregender, als sieben Mal am Tag den Herren zu lobpreisen.«
»Vermisst du deine Familie?«
»Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr. Aber wenn du jetzt fragst, ob ich nicht zu ihnen zurückgehen kann, dann muss ich dich enttäuschen. Sie sind weitergezogen. Ich weiß nicht, wohin. Sie haben es mir übel genommen, dass ich den jungen adligen Schwachkopf geheiratet habe. Das macht unsereins nämlich nicht. Auch wir haben ein Standesbewusstsein.«
»Ja, das haben wohl alle Stände«, murmelte Anna und dachte an ihren eigenen.
»Es ging uns nicht schlecht. Wir hatten zwar keine Häuser, aber unsere Wagen waren gemütlich und sauber. Wir hatten immer satt zu essen, warme Kleider, buntes Flitterzeug. Ich konnte frei reden und lachen, Späße machen und Zoten reißen und tanzen, wenn mir danach war. Alles das, was ich jetzt nicht mehr kann.«
Rosa sah plötzlich ungewohnt bedrückt aus.
»Da ist noch etwas mehr, nicht wahr?«
»Ja, da ist noch etwas mehr.«
Sie schwieg wieder, und als sich der Pfad erweiterte, lenkte sie der Anblick ab, der sich ihnen bot. Ein kleiner freier Platz am Waldrand lag vor ihnen. Er war zwar von wilden Gewächsen bestanden, doch wirkte er seltsam gepflegt, wie ein Gärtchen. Auf dem grasbewachsenen Boden stand ein behauener Stein, der ein tempelartiges Standbild trug. Rechts von ihm rankte sich eine Heckenrosedarüber, deren letzte weiße Blüten sich über den steinernen Giebel neigten. Das Laub begann bereits, gelb zu werden, und rote Hagebutten hingen an den schwarzen Ästchen. Links stand ein dunkelgrün belaubter Weißdorn mit seinen ebenfalls leuchtend roten Früchten, hinter dem Stein ragte ein Vogelbeerbaum auf. Anna wurde mit einem Mal klar, was den gepflegten Eindruck hinterließ – kein einziges herabgefallenes Blättchen lag auf dem samtigen Rasen. Doch schimmerten einige Herbstzeitlosen in ihrem durchscheinenden Violett, und die Blätter von lange verblühten Maiglöckchen bildeten eine Insel unter den Büschen.
Sie gingen näher heran, um die dargestellte Szene zu betrachten. Der Stein zeigte drei Frauen in langen, faltenreichen Gewändern, die nebeneinander saßen. Die beiden äußeren trugen runde Heiligenscheine, das Mädchen in der Mitte war mit offenen Haaren abgebildet. Zu Füßen der einen älteren Maria lag ein kleines Tier, Hund oder Katze, die andere hielt ein Füllhorn im Schoß. Die mittlere Maria jedoch hatte eine leere Schale in den Händen. Leer von steinernen Gaben, doch gefüllt mit einigen goldgelben Getreidekörnern und ein paar winzigen roten Blüten. Die Inschrift darunter war verwittert und kaum mehr zu lesen.
»Das sind sie!«, hauchte Rosa ehrfürchtig. »Die drei Marien.«
»Ja, das sind sie wohl.«
Anna schauderte, und einen kleinen Moment lang schien ihr, als habe sie schon oft vor diesem kleinen Altar gekniet und mit den Marien gesprochen. Aber das konnte doch nicht sein? Sie war noch nie aus Köln herausgekommen. Hatte dieses Heiligenbild denn eine solche Macht, dass es sie wie magisch anzog?
Rosa hatte die Hände gefaltet und sah traumverlorenaus. Auch Anna legte ihre Hände zusammen und sprach ein stilles Gebet. Aber dann wurde sie von Rosa unterbrochen, die leise zu erzählen begann.
»Es ist wegen Julius, Anna. Julius Cullmann, meinem Vetter. Er ist sechs Jahre älter als ich und ein wunderbarer Sänger und Musikant. Ein sanfter Junge ist er gewesen, viel zu verträumt. Aber er hat eine bezwingende Stimme, und wenn er zur Laute singt, dann schweigen alle Leute. Ich kann nicht singen, weißt du ja. Ich habe eine grässliche Stimme und kann keinen Ton halten. Ich kann laut plärren, und darum habe ich seine Nummern immer angekündigt. Aber gesungen hat er. Er konnte auch schauspielern. Wen er alles nachmachen konnte! Die Zuschauer haben sich die Tränen aus den Augen
Weitere Kostenlose Bücher