Der Bernsteinring: Roman
hier.«
»Es war deine Idee, diese Pilgerreise. Sei froh, nicht im Nesselhemd und mit bloßen Füßen herwandern zu müssen.«
Dennoch war auch Anna entsetzt von der Vorstellung, in der bedrängenden Enge des Gasthauses die Nacht zu verbringen. Zwar war ihr die menschliche Nähe nicht fremd, auch nicht unangenehm, aber einige der älteren Kanonissen hatten in der Tat Eigenschaften, die in den hohen, luftigen Gewölben der Stiftskirche gerade nochzu ertragen waren, in einem niedrigen, beinahe fensterlosen Raum jedoch ihre Leidensfähigkeit ein wenig strapazierten.
»Lieber das Nesselhemd und frische Luft!«, knurrte Rosa.
»Frische Luft... mh!«
»Anna, lass uns verschwinden.«
»Sie werden es bemerken.«
»Glaub ich nicht. Die wollen essen, beten und dann in den Schlummer sinken. Wir nehmen unsere Decken mit. Ich schlafe lieber in einer Hecke, als in diesem Stall!«
»Wär wohl nicht das erste Mal, Euer Hochwohlgeboren, was?«, grinste Anna.
»Die Heckenkönigin hat schon häufiger dort Hof gehalten.« Auch Rosa grinste.
»Es gibt einen Pferdestall mit einem Heuboden.« »Meinetwegen auch den.«
»Gut, ich mache mit. Trotzdem, ich sage Mutter Dionysia Bescheid. Sie wird uns verstehen, und wenn jemand nach uns fragt, weiß sie wenigstens, wo wir sind.«
»Bist du sicher, dass das gut ist?«
Anna nickte und ging zu der alten Stiftsdame, die vor dem Gästehaus auf einer Bank saß und mit ihrem Sehstein in ihrem Brevier las.
»Mutter Dionysia, verzeiht, wenn ich Euch störe.«
Der Sehstein, ein halbkugelig geschliffenes Glas, das die Schrift des Buches vergrößerte, rutschte ihr in die Falten der Tracht, aber sie sah freundlich auf.
»Was möchtest du, Anna?«
»Rosa und ich haben uns überlegt – wisst Ihr, wir sind jünger als die anderen. Ihr hättet mehr Platz, wenn wir unser Lager draußen im Heu über dem Pferdestall aufschlagen würden.«
Ein feinsinniges Lächeln huschte über Dionysias Gesicht.
»Wie aufopferungsvoll von euch Mädchen. Aber denkt an die Gefahren!«
»Aber Mutter Dionysia, das Schlimmste, was uns dort passieren kann, ist, dass uns eine Maus am Zeh nagt. Es ist noch immer Klostergelände, und die Männer lagern alle vor den Mauern.«
»Na, meinethalben.«
Anna und Rosa nahmen an dem Mahl nach der Vesper teil und schlüpften anschließend mit ihren Decken hinaus zur Scheuer.
»Puh, hier riecht es wenigstens nur nach gesundem Tier.«
»Und das Heu riecht auch frischer, als das Stroh im Gästehaus.«
Anna breitete ihre Decke aus und ließ sich auf die federnde Unterlage fallen.
»Was machen wir jetzt?«
»Auf die Complet warten.«
»Und eingepfercht in dem Kapellchen mit den Nonnen beten? Ein Mal hat mir gereicht. Komm, wir gehen zum Marienstein. Ich habe mich vorhin erkundigt. Es ist nicht weit von hier. Der Bauer vom Zehnthof hat ihn auf seinem Feld gefunden. Und der Zehnthof liegt nur eine Meile südlich von hier.«
»Aber wir können doch nicht...«
»Nein, nicht durch die Pforte. Die Mauer, liebe edle Dame. Raff die Röcke, wir klettern ein bisschen.«
Angesteckt von Rosas Übermut stimmte Anna nach kurzen Bedenken zu, und zwei unternehmungslustige, achtzehnjährige Kanonissen machten sich auf den Weg in ihr Abenteuer.
Sie wanderten durch Stoppelfelder, über die die langsamsinkende Sonne lange Schatten warf. Sie fanden schnell einen gut ausgetretenen Pfad, der zum Waldrand führte. Dort war das erste bunte Herbstlaub zu Boden gefallen, und das Gehölz strömte eine kühle Feuchtigkeit aus, die nach versteckten Pilzen und Moder roch.
»Schau, dort hinten wird es sein. Der Platz sieht mir ganz danach aus, als ob sich hier häufig Menschen versammeln.«
»Du bist erstaunlich, Rosa. Mir scheint, du hast auf Anhieb den richtigen Weg gefunden.«
»Ach, das ist nicht so schwer. Weißt du, wir sind viel umhergezogen, und da lernt man es sehr schnell, sich in einer neuen Umgebung zurechtzufinden. Es gibt immer Wegmarken, es gibt immer Leute, die man fragen kann, es gibt immer Stellen, die gemieden oder die gesucht werden. Man entwickelt ein Gefühl dafür. Wenn man überleben will.«
»Ja, ich verstehe.«
»Es war ein gutes Leben, Anna. Mir wird das erst jetzt richtig bewusst. Weißt du, ich wollte ihm entfliehen, dem unsteten Umherwandern, den Anfeindungen der selbst ernannten Sittenwächter, der Verachtung der Vornehmtuer und all diesen Dingen. Ich wollte Ansehen, Wohlstand, Ehrbarkeit. Ich habe sie bekommen. Aber, heiliger Vitus, wie langweilig das
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