Der Bernsteinring: Roman
wischen müssen, wenn er den trunkenen Bischof spielte oder den gehörnten Ehemann. Aber die Narreteien waren ihm gleichgültig, er spielte sie, wenn wir Geld brauchten. Seine ganz große Gabe war es, alle möglichen Neuigkeiten aufzuschnappen. Viele kamen zu uns, um seine Nachrichten zu hören und andere zu überbringen.« Rosa lachte leise auf. »Er verpackte alles in handliche Reime. Mein Gott, war er gut darin!«
»Was ist mit ihm passiert?«
»Nichts. Mit mir ist etwas passiert. Ich war ein dummes kleines Mädchen, aber er war stets nett zu mir. Er hat mir Geschichten erzählt, Balladen vorgesungen, solche, die er sich selbst ausgedacht hat, aber oft auch alte. Ich Törin jedoch musste ja nach Höherem haschen. Heute weiß ich, ich hätte besser alles daran geben sollen, um bei ihm zu bleiben.«
»Du bist in ihn verliebt?«
»Ich liebe ihn. Und ich wünsche, ich würde wenigstens wissen, ob es ihm gut geht. Ich würde so gerne wissen, wo er jetzt ist. Und am liebsten würde ich ihn wieder sehen.«
Tränen nässten Rosas Wangen, als sie sich zu dem alten Stein umdrehte und niederkniete.
Anna fühlte sich seltsam berührt. Sie hatte Rosa für ein lebenslustiges Mädchen gehalten, aber tiefere Gefühle hatte sie ihr bisher nicht zugetraut. Sie ging zu ihr hin und streichelte ihr die Schulter.
»Darum sind wir also alle hierher gepilgert?«, fragte sie leise.
»Nun ja...« Rosa wischte sich mit dem Handrücken die Tränen ab und meinte: »Ich will dir von meiner Lieblingsgeschichte berichten. Eine, um die ich ihn so oft bat, dass es ihm schon langweilig geworden sein musste. Aber er hat sie mir wieder und wieder erzählt.«
»Ja, erzähle, Rosa.«
Sie setzen sich auf einen Baumstamm, und in den goldenen Strahlen der Abendsonne begann Rosa zu erzählen: »In alten Tagen lebte ein Mann in einem kleinen Dorf, der Thomas hieß und ein Spielmann war. An einem strahlenden Sommertag machte er sich zu einer Wanderung auf, und als er einen kleinen, schattigen Wald erreichte, wurde er müde und setzte sich nieder. Müßig zupfte er ein paar Akkorde auf seiner Laute, als er plötzlich eine schöne Dame auf einem braunen Zelter sah. Sie trug ein Kleid aus laubgrüner Seide, ihr rotes Haar flatterte wie ein Schleier hinter ihr her, und in der Mähne ihres Pferdes klingelten silberne Glöckchen. Höflich begrüßte Thomas die Dame, und sie bat ihn, etwas für sie auf der Laute zu spielen. Also spielte Thomas im grüngoldenen Schatten der Bäume, und er spielte so schön wie nie zuvor in seinem Leben. 'Ich will dich für deine Musik belohnen‹, sagte die Schöne, als er geendet hatte. 'Um was du mich bittest, werde ich dir gewähren.‹
Und Thomas bat darum, ihre Lippen küssen zudürfen. Sie lächelte und warnte ihn: 'Wenn du mich küsst,
wirst du verzaubert und musst mir sieben Jahre dienen.‹
'Was sind schon sieben Jahre?‹, meinte Thomas und küsste die Fremde innig.
Die Dame befahl Thomas alsdann, sich hinter sie auf ihr Pferd zu setzen, und schnell wie der Wind trug es beide über das Land. Schon bald merkte Thomas, dass sie nicht mehr in der Welt der Lebenden weilten, denn die Wildnis vor ihnen war leer und weglos wie das Meer. 'Dies ist der Zugang zum Feenreich, Thomas, und ich bin die Königin hier. Wenn du mir ab jetzt bedingungslos gehorchst und kein Wort über deine Lippen kommt, was immer du auch erlebst, dann bringe ich dich in sieben Jahren zurück in deine Welt. Wenn nicht, wirst du Zeit deines Lebens in der Wildnis zwischen dem Feenland und dem Menschenreich wandern müssen.‹
Thomas nickte, und so führte die schöne Dame ihn in ihr seltsames Reich.
Er hielt sich treu an seine Anweisungen und schwieg sieben Jahre lang. Als die Zeit schließlich um war, geleitete die Feenkönigin ihn in einen zauberhaften Garten voller leuchtender Blumen, saftiger Früchte und raschelnder Büsche, unter denen Einhörner weideten. Sie pflückte einen Apfel und reichte ihn Thomas. 'Du darfst nun wieder sprechen, und für deine Dienste werde ich dir diese verzauberte Frucht schenken. Wenn du sie isst, wirst du nie mehr eine Lüge aussprechen können.‹
Thomas betrachtete den Apfel zweifelnd. 'Manchmal muss man aber unter Menschen die Unwahrheit sagen, und wenn auch nur aus Höflichkeit!‹
Die Schöne beruhigte ihn jedoch, und verabschiedete sich. Doch als sie ging, wusste Thomas, dass seine Liebe zu ihr nie sterben würde. Er sah ihr lange nach. Noch hörte er das leise Klingeln der Silberglöckchen,doch eine
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