Der Bestatter: Thriller (Christian Beyer-Reihe)
»Weißt du, was du bist? Du bist der
Teufel.« Er flüsterte es mit brüchiger Stimme, mit dem ganzen Entsetzen, das im
Laufe des letzten Jahres, im Laufe seines Lebens über ihn gekommen war.
Mißtrauisch verfolgte Wilhelm nun jede Bewegung Karls. »Und du? Ein
komplett Irrer! Jammerst über das schlimme Schicksal der Kinder, aber erwürgst
das Frischfleisch reihenweise.«
»Ich rette ihre Seelen. Solange sie noch nicht erwachsen sind. Und
Monster werden, wie wir es geworden sind.«
Wilhelm lachte bitter auf: »Und mir schiebst du’s in die Schuhe!«
Beide Brüder saßen inzwischen aufrecht in ihren Sesseln, beide in
höchster Anspannung. Ihre Körper schwitzten Adrenalin aus. Sie wußten, daß es
gleich passieren würde, daß es Abschiednehmen hieß. Deswegen waren sie hier. Im
Hintergrund war das Geräusch eines herannahenden Hubschraubers zu hören, doch
sie achteten nicht darauf.
»Das wollte ich. Damit die Bullen dich kriegen, und das nicht nur
für ein paar läppische Jahre. Du solltest im Gefängnis verrecken!«
Wilhelm goß sich und Karl erneut Wein nach: »Du bist ein armseliger
Feigling, sonst nichts. Wieso hast du mich nicht einfach abgeknallt, wenn du so
erpicht darauf bist, die Kinderlein vor mir zu schützen?«
»Ich dachte, ich kann es nicht. Du bist mein Bruder. Du bist mein
Zwilling. Du bist ich.«
»Das ist fast dreißig Jahre her. Lange vorbei. Laß uns noch einmal
auf die alten Zeiten trinken.«
Karl nahm das Glas, das Wilhelm ihm reichte. Die beiden erhoben sich
aus ihren Sesseln, stießen an, stumm und schwer, als wöge der Wein Zentner, und
tranken. Karl und Wilhelm standen sich gegenüber, sahen sich in die Augen und
verabschiedeten sich voneinander, jetzt, lange Jahre nach der Nacht, in der
Willi verschwand. Sie mußten es tun, mußten Abschied davon nehmen, daß sie
Brüder waren, daß sie alles geteilt hatten, das ganze Leid, die Angst vor
nächtlichen Schritten auf der Treppe, den Schrecken fremder Männer, fremder
Hände, die sie befingerten, das Unfaßbare, daß ihre Eltern sie auslieferten
statt zu schützen, das einzig Tröstliche, daß sie eins gewesen waren und nicht
allein. Bis sie auseinandergerissen wurden. Geteilt wurden, um getrennt zu
leiden, Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr.
Als Karl den Kopf nach hinten legte, um sein Glas auszutrinken, zog
Wilhelm die Waffe aus seinem Sakko hervor.
»Leider ist unser Gespräch jetzt beendet, Karli. Tut mir leid, daß
alles so gekommen ist, aber du hättest dich nicht einmischen sollen.«
Draußen pirschten sich Christian, Eberhard und Volker an
das Haus heran. Anna wartete, auf Christians Geheiß, am Rande des einige Hektar
großen Weideland-Grundstücks. Sie stand neben dem Piloten am Hubschrauber und
zitterte, obwohl es eine milde Nacht war. Nervös trat sie von einem Bein aufs
andere. Es paßte ihr nicht, hier zurückzubleiben. Es paßte ihr ganz und gar
nicht. Sie wollte nicht allein sein auf unbekanntem Territorium, allein mit
einem fremden Mann. Anna wußte, daß die Übelkeit, die in ihr aufstieg, Symptom
des Traumas war, das sie am Morgen durch Joes Besuch erlebt hatte, und sie
kämpfte dagegen an. Sie zwang sich, ruhig und tief zu atmen.
Eberhard und Volker schlichen mit etwas Abstand hinter Christian her
und orientierten sich dann nach vorne zum Hauseingang. Christian war inzwischen
an der rückwärtigen Hausmauer angekommen und schob sich mit entsicherter Waffe
im Schatten des Reetdachs an ein bodentiefes Fenster vor, durch dessen
geschlossene Vorhänge er das Glimmen des Kaminfeuers mehr erahnte als sah.
Plötzlich zerriß ein Schuß die nächtliche Stille. Dann noch einer.
Christian sah Mündungsfeuer durch den Vorhang aufblitzen. Er zögerte keine
Sekunde und sprang, seinen Kopf mit beiden Armen schützend, durch die Scheibe.
Volker und Eberhard verschafften sich im gleichen Moment gewaltsam durch die
Haustür Zutritt.
Anna, die etwa achthundert Meter weit weg stand, zuckte bei den
Schüssen und dem selbst über diese Entfernung deutlich hörbaren Bersten des
Glases erschrocken zusammen und rannte los, mit langen Schritten über die in
völliger Dunkelheit liegende Wiese voller Maulwurfshügel.
Christian stand im spärlich beleuchteten Wohnzimmer, die Waffe auf
eine Person vor dem Kamin gerichtet. Zwei Sekunden später waren auch Volker und
Eberhard da.
Auf dem Teppich lag einer der beiden Brüder, neben ihm eine Waffe.
Ein dünner Streifen Blut lief seinen Mundwinkel herab,
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