Der beste Freund
Seit Monaten war er nicht mehr frühmorgens mit Tess ausgeritten. Als sie es am Telefon vorschlug, hatte er sich sehr gefreut, obwohl er sie neuerdings etwas beneidete.
Als Kinder hatten sie stundenlang fantasiert, wohin sie als Erwachsene alles reisen würden. Und in diesem September würde sie es tatsächlich tun, während er auf der Ranch festsaß. Seine Eltern erwarteten, dass er bei ihnen blieb und das fortführte, was sie mühsam aufgebaut hatten. Da er das einzige Kind war, konnte er die Verpflichtung auf niemand anderen abwälzen.
Tess hatte es da leichter, obwohl sie ständig klagte, wie hart es für eine Frau war, “in die Welt zu ziehen”, wie sie sich ausdrückte. Aber sie tat es, und er nicht. Ihre Eltern ließen sie wahrlich nicht gern ziehen, schon gar nicht nach New York City, doch sie hatten noch ihre vier Söhne mit deren Frauen sowie sieben Enkel. Mit so vielen Blakelys im Rücken brauchte Tess sich keine Gewissensbisse zu machen, wenn sie ihre Chance zur Unabhängigkeit ergriff. Mac beneidete sie um diese Freiheit.
“Ich entbiete Euch einen wunderschönen guten Morgen, MacDougal.”
Er schnallte Peppermint Pattys Gurt fest und drehte sich mit einem Lächeln zu Tess um. Sie hatte ihn monatelang auf diese Weise begrüßt, nachdem sie in einem Theaterstück der Copperville Highschool die Hauptrolle gespielt hatte. Der Gruß weckte alte Erinnerungen in Mac.
Sie hatten zusammen den Text in dem Baumhaus im Garten der Blakelys geprobt. An einer Stelle hätte er Tess beinahe geküsst, natürlich nur, weil es das Stück vorschrieb. Aber dann fanden sie beide, das sei nicht notwendig für das Lernen des Textes. Mac war selbstverständlich erleichtert gewesen, denn Tess zu küssen, wäre ihm komisch vorgekommen. Trotzdem hätte er es gern einmal ausprobiert.
“Wohlan, es ist ein guter Morgen, schöne Maid”, gab er zurück. Sie sah hinreißend aus wie immer, aber irgendwie wirkte sie heute verändert. Mac musterte sie eingehend. “Hast du dein Haar schneiden lassen?”
“Nicht, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben.” Sie schob es sich aus dem Gesicht. “Wieso, sieht es unmöglich aus?”
“Nein, es sieht prima aus.” 23 Jahre lang hatte er mitbekommen, was Tess alles mit ihrem üppigen braunen Haar anstellte. Er hatte Zöpfe, krause Dauerwellen, einen Streichholzkopf und rote Strähnen begutachten müssen. Einmal hatte er ihr selbst die Haare geschnitten, als sie Kaugummi darin hatte. Keine der Elternparteien hatte seine Friseurkünste gewürdigt. So, wie Tess es jetzt trug, mochte er es sehr – kinnlang und schlicht, sodass ihre natürlichen Wellen zur Geltung kamen.
“Habe ich einen Fleck auf dem Hemd, oder was?” Sie sah auf das alte T-Shirt mit dem Schriftzug des Footballclubs Copperville Miners herunter.
“Nein, nein.” Mac schob sich mit dem Daumen den Hut in den Nacken. “Ich habe nur das Gefühl, dass du irgendwie anders bist.” Er trat näher und legte ihr die Hand unters Kinn. “Trägst du vielleicht ein neues Make-up?”
“Zum Reiten? Ich spinne doch nicht.”
Er betrachtete ihre glatte Haut und stellte fest, dass ihre Sommersprossen voll zu sehen waren und ihre Lippen das normale Rosa hatten. Ihre Wimpern waren weich und dicht, nicht so spitzig wie in der Highschool, als sie sie mit Mascara verkleistert hatte. Nein, sie trug kein Make-up.
Doch als er in ihre grauen Augen sah, merkte er, was ihn störte. Sie waren die besten Freunde und hatten nie Geheimnisse voreinander gehabt, jedenfalls bis jetzt nicht. An diesem Morgen trug Tess jedoch ein Geheimnis mit sich. Es veränderte ihren Gesichtsausdruck, gab ihr etwas Rätselhaftes, sie wirkte fast sexy. Nicht, dass er Tess jemals für sexy gehalten hätte, Gott bewahre.
Dennoch machte es ihm zu schaffen. Es erregte ihn sogar ein wenig. Tess war für ihn stets durchschaubar gewesen, und diese Art war ihm neu. Mac beschloss, zu warten und das Geheimnis gären zu lassen. Es machte ihm Spaß, ihr dabei zuzusehen.
Er gab ihr einen Nasenstüber und trat zurück. “Wahrscheinlich bilde ich es mir ein. Du bist ganz dieselbe Tess. Bereit zu einem scharfen Ritt?” Zu seiner Verblüffung wurde sie rot. In Macs Gegenwart errötete Tess nie, dafür kannten sie sich viel zu gut.
“Äh, klar”, murmelte sie. Ohne ihn anzusehen, ging sie auf Peppermint Patty zu, die Wangen noch immer hochrot.
Während er dastand und sich fragte, womit er Tess in Verlegenheit gebracht hatte, saß sie hastig auf und ritt los. Er folgte
Weitere Kostenlose Bücher