Der beste Tag meines Lebens
Finger verschmierte. »Ja«, bekräftigte er, »du bist nicht Jet Li.«
»Er braucht Jet Li gar nicht.«
Wayne kam um die Ecke und grinste schief. Das Grinsen ließ Colin vermuten, dass Wayne, was auch immer er als Nächstes vorhatte, es genießen würde. Sehr sogar.
Eddie lachte. »Spinn dich aus. Mit uns allen wirst du es wohl kaum aufnehmen können.«
»Nein, Eddie«, sagte Wayne. »Nur mit dir.«
GRAUSAM , entschied Colin. Waynes Lächeln war eindeutig ein GRAUSAMES . Aus irgendeinem Grund störte das Colin nicht im Geringsten.
Eddie ließ Colin los, so dass er auf den Steinboden plumpste. Er und Stan ballten die Fäuste. Wayne blieb einfach nur stehen, in entspannter, aber zugleich wachsamer Haltung.
»Wayne ist sehr stark«, sagte Colin, während er an Stan und Eddie vorbei und an Waynes Seite schlüpfte. »Seine Muskulatur hat sich eindeutig in beschleunigtem Tempo entwickelt. Wahrscheinlich hat eine Kombination aus Ernährung, genetischer Veranlagung und Umwelteinflüssen das vorzeitige Einsetzen der Pubertät bewirkt. Wenn ihr seine Oberlippe genauer betrachtet, werdet ihr sehen, dass er …«
Wayne räusperte sich. »Colin. Die Biovorlesung verschieben wir auf später, okay?«
»Okay.« Colin schlug eine neue Seite in seinem Notizbuch auf und vermerkte darin eine Erinnerung:
Wayne zu einem beiderseits genehmen Zeitpunkt die Entwicklung der charakteristischen sekundären Geschlechtsmerkmale in der Frühadoleszenz erklären.
In den nächsten 25 Sekunden sprach keiner der beiden Kontrahenten ein Wort oder rührte sich auch nur von der Stelle. Colin wusste das so genau, weil er stumm mitzählte und es in seinem Notizbuch festhielt. Die Auseinandersetzung endete erst, als die Schulglocke zum letzten Mal läutete, was Colin ein bisschen enttäuschend fand. Er wäre neugierig gewesen, wie lange die Situation angedauert hätte.
Doch da steckte eine Geschichtslehrerin mit grauen Wuschelhaaren den Kopf aus einem Klassenzimmer. »Schert euch in den Unterricht, ihr Tiere«, bellte sie und knallte die Tür wieder zu.
Eddie warf Colin und Wayne einen letzten Blick zu, bevor er sich zu Stan, Cooper und den anderen umdrehte. Er deutete mit dem Kopf, und alle verzogen sich schweigend. Colin und Wayne blieben allein in der Eingangshalle zurück. »Hey«, sagte Wayne.
»Guten Morgen, Wayne. Wie geht es dir heute?«
Wayne schwieg 7 Sekunden lang. »Machst du heute nach der Schule irgendwas?«
»Ich muss nachsitzen.«
»Ich meine, danach.«
Colin runzelte die Stirn und ging in Gedanken seinen Terminplan durch. Dann hellte sich seine Miene plötzlich auf. Er hatte eine Idee, und zwar eine ziemlich gute. »Magst du Trampolinspringen?«, fragte er.
Wayne zuckte mit den Achseln. Es gab wohl nur einen Weg, das herauszufinden.
15 . Kapitel
Zwei Ärzte in Wien
Während Hans Asperger am Kinderhospital der Universität Wien Pionierarbeit leistete, war ein anderer Kinderpsychiater namens Heinrich Gross keine zwei Kilometer entfernt in der Kinderklinik Am Spiegelgrund tätig. Kinder von damals erinnerten sich an die gebügelte braune Uniform mit der Hakenkreuzbinde, in der er über die Flure marschierte. Er interessierte sich besonders für körperlich und geistig behinderte und verhaltensauffällige Kinder, die die NS -Behörden als »unbrauchbar« abstempelten.
Gross und seine Kollegen führten an diesen Kindern Experimente durch, danach ermordeten sie sie, durch Überdosierung von Medikamenten, Verhungern oder indem sie absichtlich Lungenentzündungen herbeiführten. Auf diese Weise starben Am Spiegelgrund über 800 Kinder. »Lebensunwertes Leben« nannten die Nazis sie.
Zur selben Zeit argumentierte Dr. Asperger leidenschaftlich für den gesellschaftlichen Nutzen seiner Patienten. Er betonte die außergewöhnlichen Fähigkeiten, die oft mit ihren Handicaps einhergingen. Die Familien, deren Kinder er behandelte, waren überwältigt von seinem Feingefühl und Verständnis. Viele seiner Patienten führten ein glückliches, erfolgreiches Leben, unter anderem Elfriede Jelinek, die später sogar mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde.
Ende 1944 wurde Aspergers Klinik von Bomben der Alliierten zerstört. Seine Kollegin Schwester Victorine kam dabei ums Leben. Der Großteil seiner Forschungsergebnisse ging verloren. Als er 1981 starb, waren Aspergers Arbeiten weitgehend in Vergessenheit geraten.
Sein Kollege Gross entging der Strafverfolgung nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Er wurde zu einem der
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