Der beste Tag meines Lebens
angesehensten Ärzte Österreichs und erhielt die höchsten nationalen Auszeichnungen auf dem Gebiet der Medizin. Jahrzehntelang setzte Gross seine neurologischen Untersuchungen an den konservierten Gehirnen der Kinder fort, deren Ermordung er mitbewirkt hatte. Erst gegen Ende seines Lebens, zu Beginn des 21 . Jahrhunderts, wurde Gross schließlich für seine Kriegsverbrechen angeklagt. Der Prozess kam jedoch wegen der angeblichen Senilität des Angeklagten nicht mehr zustande. Er starb 2005 .
Die Überreste von Gross’ Opfern wurden in einer Gedenkzeremonie 2002 eingeäschert. Er starb als freier Mann, aber immerhin entlarvt als das Monster, das er gewesen war. Aspergers Ruf wurde rehabilitiert, nachdem man in den 1990 ern seine Arbeiten wiederentdeckt und ins Englische übersetzt hatte. Das nach ihm benannte Syndrom ist heute allgemein bekannt.
Mein Vater sagt, Heinrich Gross sei einfach ein böser Mensch gewesen, und dass manche Leute eben so seien. Ich bin mir nicht sicher, ob mir diese Erklärung reicht. Auch wenn ich es versuchen will, kann ich nicht begreifen, wie so viel Grausamkeit in einem so kleinen Wort Platz finden soll. Das habe ich einmal meinem Vater erzählt, woraufhin er mich gebeten hat, mir zu überlegen, wie so viel Gutes in einem so kleinen Wort wie »Liebe« Platz haben kann.
***
Colin hatte erst ein einziges Mal nachsitzen müssen, wegen eines Missverständnisses im Fall der sprechenden Puppe. Er hatte damals ein geräuschvolles Experiment mit dem Bewegungsmelder vorgenommen, der die Puppe zum Bellen brachte, statt dass sie »Mama« oder »Ich hab dich lieb« gesagt hätte. Seine Klassenlehrerin Ms. Breyman hatte geglaubt, er würde den Unterricht absichtlich stören, und ihn daher streng ermahnt. Als Colin sie darauf hinwies, dass der Aufenthalt im Klassenzimmer an sich kein Unterricht sei und es daher auch nichts zu stören gäbe, hatte Ms. Breyman ihn, während die anderen zu Mittag aßen, nachsitzen lassen. Colin hatte das unfair gefunden, doch Marie hatte ihm erklärt, dass es mit der Fairness ein schwieriger Balanceakt sei, wenn man versuche, eine gewisse soziale Ordnung zu erhalten.
»Sie ist deine Lehrerin«, hatte Marie gesagt. »Sie muss sich um dreißig Schüler kümmern. Wenn die ihr alle widersprächen, wo käme sie da hin?«
»In ihr Klassenzimmer«, erwiderte Colin. Und er verstand nicht, worüber Marie daraufhin lachte.
Heute würde er nicht im Frieden und in der Stille eines Klassenzimmers nachsitzen, während eine ältliche Lehrerin Klassenarbeiten korrigierte. Mr. Turrentine war heute für diese Disziplinarmaßnahme zuständig. Und im Unterschied zu vielen seiner Kollegen hielt Mr. Turrentine das Nachsitzen wie jede Strafe für eine Gelegenheit, um den Schülern etwas beizubringen. Diesen Auftrag nahm er sehr ernst.
Colin stand allein in Mr. Turrentines Büro. Die Turnhalle selbst stank zwar und war schmutzig, aber Colin begann, den Ordnungssinn seines Lehrers zu bewundern. Und das lag nicht nur daran, dass die Sportgeräte am Ende jeder Unterrichtseinheit exakt an den Platz zurückzukehren schienen, an den sie gehörten (so war beispielsweise jeder Ball numeriert und musste in ein bestimmtes Fach, wo er wiederum in aufsteigender Reihenfolge sortiert zu liegen kam), sondern alle Dinge in der Halle schienen ihren festen Platz zu haben. Das galt erst recht in Turrentines Allerheiligstem.
Mr. Turrentine besaß Listen für einfach alles – Ausrüstung, Zubehör und Schüler. Alles wurde dokumentiert, beschriftet, kategorisiert. Für jede Unterrichtseinheit gab es ein eigenes Klemmbrett, darauf standen die Namen der Schüler, die Tage im Semester und dahinter ein oder ein in einem Kästchen. Fasziniert entdeckte Colin auch seine Sportstunden und ging die Liste durch, bis er auf seinen eigenen Namen stieß:
Fischer, C. M. Dahinter folgte siebenmal ein . Colin lächelte. Er suchte nach seinen Freunden und anderen, die er kannte, um deren Anwesenheit zu überprüfen. Greer, M. A. Auch sieben Häkchen. Connelly, W. J. Sieben Mal . Sein Finger suchte auf der Liste nach Moore, R. T., als er hörte, wie Mr. Turrentine sich hinter ihm räusperte.
»Bist du mein neuer Assistent, Fischer?«, fragte Mr. Turrentine.
»Nein«, antwortete Colin und drehte sich um.
»Bist du vielleicht ein Heinzelmännchen, das meinen Schreibtisch aufräumt, meine Unterlagen sortiert und am Abend noch meine Schuhe putzt, damit ich es nicht selbst tun muss?«
»Nein«,
Weitere Kostenlose Bücher