Der beste Tag meines Lebens
vermissen? – Das halte ich für unwahrscheinlich. Sandy zieht ja nicht aus der Gegend weg, und ihre Beliebtheit bei Jungs höherer Klassen dürfte ihr den Zugang zu privaten Mitfahrgelegenheiten sichern.
»Ich kann’s einfach nicht glauben«, sagte Melissa leise und riss Colin damit aus seinen Gedanken. »Von der Schule geflogen.«
»Sie hatte eine Waffe bei sich«, sagte Colin. »In ihrer Handtasche.«
»Eddies Waffe.« Melissa deutete mit dem Kinn und lenkte Colins Aufmerksamkeit auf Eddie. Der stand mit einem Haufen Freunde am anderen Ende der Eingangshalle. Normalerweise waren das die lautesten und übermütigsten Jungs der Schule, doch heute Morgen verhielten sie sich still. Insbesondere Eddie. Colin schrieb das alles auf.
Eddie schaut zu, wie Sandy ihren Spind leert. – Er hilft ihr nicht. – Er sieht TRAURIG aus. – Sandy muss wissen, dass er da ist, doch sie schaut nicht zu ihm hin.
»Er bekommt nicht mal einen Nachmittag Nachsitzen«, sagte Melissa. »Das ist nicht fair.«
»Oh«, sagte Colin. »Weint sie deshalb?«
»Natürlich. Es ist unfair, und sie weiß es. Da würde jeder weinen.«
»Es geht nicht darum, was fair ist«, sagte Colin und schrieb es gleichzeitig auf. »Es geht darum, was sich mit Beweisen belegen lässt. Und die Polizei kann nicht beweisen, dass die Waffe Eddie gehört hat.«
Melissa drehte sich frontal zu ihm um. Sie stand so nah vor ihm, dass er deutlich sehen konnte, dass ihr linkes Auge so blau war wie seins, das rechte jedoch eine fast unmerkliche Spur Grün enthielt – das nennt man Heterochromie. Colin fragte sich, ob sie ihr Leben im Mutterleib als Zwilling begonnen und dann sehr früh in der Schwangerschaft ihrer Mutter den Bruder oder die Schwester in ihren eigenen Körper absorbiert hatte. Dieses Phänomen ist manchmal für Chimärismus verantwortlich. [33]
Dann spürte Colin etwas Seltsames. Er bemerkte, dass Melissa seine Hand hielt. Sehr wahrscheinlich tat sie das schon seit ein paar Sekunden, während er noch über die Umstände ihrer Empfängnis nachgedacht hatte. Wann die Berührung begonnen hatte, vermochte er nicht zu sagen.
»Du könntest es«, sagte sie.
Da läutete es zum ersten Mal an diesem Morgen. Melissa drückte Colins Hand noch einmal, dann machte sie sich auf den Weg zu ihrer ersten Unterrichtsstunde. Colin schaute auf seine Hand hinunter: Der schwache Abdruck von Melissas Fingern war noch auf seiner Haut zu sehen. Während auch er den Flur hinunterging, starrte er weiter auf seine Hand, wo die Spur, die sie an ihm hinterlassen hatte, langsam verblasste.
Alle Gedanken an Melissa waren plötzlich weg, als Colins Körper in einen Spind krachte.
Das Schloss bohrte sich in seinen Rücken, und in seinen Ohren dröhnte es noch nach. Colin zuckte zusammen und schloss die Augen, um den Schmerz auszublenden. Und er begann zu zählen. Als er seine Augen wieder aufmachte, sah er Stans Gesicht, nur eine Handbreit von seinem eigenen entfernt. Stan war WÜTEND .
Er keuchte so heftig, dass der Verband, der seine Nase bedeckte, sich aufgrund eines frisch geplatzten Blutgefäßes rötlich färbte. Colin war fasziniert von dem klebrigen dunkelroten Fraktalmuster, das sich auf der ausgefransten Gaze bildete. [34] »Du solltest nicht so wütend werden«, sagte Colin. »Du könntest dir selbst Schaden zufügen.«
Da packte Stan Colin mit beiden Händen an der Jacke und schleuderte ihn noch mal gegen den Spind. Colins Zähne schlugen aufeinander. »Du glaubst wohl, du wärst witzig, Shortbus?«
»Ich werde zu spät zum Unterricht kommen«, sagte Colin und versuchte, einen Schritt von Stan weg zu machen.
Doch Eddie verstellte ihm den Weg. Falls das überhaupt möglich war, sah er noch WÜTENDER aus als Stan. Cooper und drei andere Freunde von Stan lauerten hinter ihm. Colin analysierte, dass die Jungs sich so postiert hatten, dass ihm jeglicher Fluchtweg versperrt war.
»Wie schön«, sagte Eddie mit heiserer Stimme. »So wird es Sandy auch gehen. Aber für den Rest ihres Lebens.« Er packte Colin, drehte dessen Hemd in seinen Fäusten und hob ihn daran hoch.
»Fass mich nicht an«, sagte Colin und atmete hörbar schneller. »Ich …«
»Ja, ja. Ich weiß schon, du magst es nicht, wenn man dich anfasst. Na und, buhuu, du kleine Zicke, was willst du denn dagegen tun? Mir in den Hintern treten? Ein unerwarteter Schlag macht dich noch nicht zu Jet Li.«
Stan befühlte seine Nase, bemerkte jedoch das durchsickernde Blut nicht, das ihm die
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