Die Mädchenwiese
Prolog
Als hätte er nur auf sie gewartet.
Als Berta die düstere Waldlichtung betrat, zerriss der Wind die Wolkendecke, und der Mond blitzte hervor. Wie ein Scheinwerfer traf sein Licht auf das Moos und auf die junge Frau.
Während Berta neben dem nackten Körper zu Boden sank, höhnte eine Stimme in ihrem Kopf: Erzähl mir nicht, du bist überrascht, denn du hast gewusst, dass es wieder passieren wird.
»Ja«, sagte sie, »ja, ja …« Zugleich schüttelte sie den Kopf. Sie wollte aufstehen, weglaufen, so schnell, wie es ihre alten Knochen zuließen. Doch ihr Körper versagte ihr den Dienst, und sie kauerte wie ein Häufchen Elend auf der Lichtung, als wäre sie mit dem Moos verwachsen, während ihr Blick an der Leiche klebte.
Du kannst mir nicht entkommen, du nicht, das weißt du, so wie du auch begriffen hast, warum es geschehen ist.
Berta spürte, wie sich Galle ihren Hals hinaufdrängte, als ihr Blick auf die entstellten Brüste und den Unterleib der jungen Frau fiel; als hätte ein Tier seine Krallen an dem Fleisch gewetzt. Die Bauchhöhle der Frau klaffte wie ein Krater auf, gab den Blick frei auf ein Loch ohne Eingeweide.
Tränen strömten Bertas Wangen herab, während ihre Augen das Gesicht der Toten suchten. Doch der Leiche fehlte der Kopf. Ohne hinzuschauen, wusste Berta, dass der Frau auch die Hände abgetrennt worden waren.
Angst drohte Berta zu überwältigen. Sie kämpfte dagegen an. Es war nicht ihre Schuld. War es nie gewesen.
»Nein«, presste sie hervor, »nein, nie, niemals.«
Und dennoch geschah es.
Weil du böse bist, weil ihr alle böse seid, ist das denn so schwer zu begreifen?
»Nein«, heulte Berta. »Nein, ich kann nicht, ich will nicht …«
Doch sie wusste, was sie zu tun hatte.
Selbstverständlich weißt du das, es ist ja nicht das erste Mal, dass es geschehen ist, und …
Widerstrebend rappelte Berta sich hoch, nahm die Arme der Toten und faltete sie ihr auf der Brust. Damit sie nicht wieder verrutschten, stützte Berta sie mit zwei dicken Ästen ab. Mit einem Stöhnen schaufelte sie Erde zusammen und füllte damit die Bauchhöhle. Mühsam schaffte sie Moos herbei, das sie über dem verstümmelten Leib ausbreitete. Anschließend sammelte sie Tannenzweige und bedeckte damit den Leichnam wie mit einer Decke.
… und es wird nicht das letzte Mal sein, dass es passiert! Das ist dir doch klar, oder?
Erschöpft fiel sie neben der Toten auf die Knie. Leise sprach sie ein Gebet. Erst dann schleppte sie sich zurück nach Finkenwerda. Ihr Haus lag am Ende des kleinen Ortes. Berta hatte gerade den Dorfplatz erreicht, da rief jemand ihren Namen.
»Lisa?«, hörte sie plötzlich eine Stimme hinter sich.
Lisa wirbelte herum. »Scheiße, Sam, hast du sie noch alle?«
Ihr kleiner Bruder tat einen Schritt zurück.
»Und was hast du hier überhaupt zu suchen?«
Verängstigt zog er den Kopf zwischen die Schultern.
»Also?«
»Ich, äh …« Er knetete seine Finger. »Ich bin dir gefolgt.«
»Ach, ehrlich?«
Er vermied es, sie anzusehen.
Lisa klemmte den Hörer zurück auf die Gabel, hob ihren Rucksack vom Boden auf und trat aus der Telefonzelle. Es war eines dieser gelben Häuschen, die eigentlich nur noch in alten Fernsehfilmen zu sehen waren. Oder in Finkenwerda. In dem kleinen Dorf tickten die Uhren anders, zumindest kam es Lisa mit ihren sechzehn Jahren so vor.
»Und?«, fragte Sam. »Du kommst doch zurück, oder?«
»Was soll die blöde Frage?«
Er blickte zu Boden.
»Sam, was?«
Seine Lippen bewegten sich lautlos.
»Erde an Sam: Red mit mir!«
Er holte Luft, schaute zu ihr auf, dennoch war seine zitternde Stimme kaum zu verstehen. »Du hast gerade am Telefon gesagt, du möchtest am liebsten abhauen …«
»Hast du mich etwa belauscht?«
»… und du wirst das Wochenende in …«
»Gar nichts werde ich!«, unterbrach sie ihn schroff. »Und halt jetzt bloß deine Klappe.«
Sofort ließ Sam den Kopf wieder hängen. Dunkle Punkte sprenkelten sein rotes T-Shirt. Er weinte.
Am liebsten hätte Lisa ihn gepackt, kräftig durchgerüttelt und ihm dabei in sein verheultes Gesicht geschrien: Musst du immer wie eine beschissene Schwuchtel herumflennen? Aber wahrscheinlich würde er sich dabei nur das Bein verstauchen, den Knöchel umknicken – oder wieder den großen Zeh brechen, wie er es in seiner unfassbaren Tollpatschigkeit vor zwei Monaten schon einmal getan hatte, noch dazu an der Badezimmertür.
Sie drehte sich um und marschierte zur Bushaltestelle, wie sie
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