Der Besuch
Feuer.
Das werden Sie natürlich für baren Unsinn halten, weil Sie es nicht verstehen. Das meiste von dem, was der Engel dem Vikar erzählte, konnte sich dieser tatsächlich nicht erklären, denn seine eigenen Erfahrungen, die nur auf diese gegenständliche Welt bezogen waren, verboten ein Verständnis. Es war zu seltsam, um es sich vorzustellen.
Was diese beiden Universen zusammensto
ßen hatte lassen, so daß der Engel plötzlich nach Sidderford heruntergefallen war, konnten weder der Engel noch der Vikar sagen. Übrigens kann es der Verfasser auch nicht. Der Verfasser beschränkt sich auf die Tatsachen des vorliegenden Falles und hat weder das Bedürfnis noch die Kühnheit, sie zu erklären. Erklärungen sind die Trugschlüsse eines wissenschaftlichen Zeitalters. Und die Grundtatsache des Falles ist nun einmal diese, daß am 4. August 1895 draußen im Siddermorton Park ein Engel stand, noch immer behaftet mit dem Glanz einer wunderbaren Welt, in der es weder Sorge noch Trauer gibt, strahlend und schön, und mit dem Vikar von Siddermorton über die Pluralität der Welten sprach. Der Verfasser wird, nötigenfalls bei diesem Engel schwören; und da zieht er auch die Grenze.
8
„Ich empfinde“, sagte der Engel, „ein äußerst ungewöhnliches Gefühl – hier. Ich habe es seit Sonnenaufgang gespürt. Ich kann mich nicht erinnern jemals – hier – zuvor ein Gefühl gehabt zu haben.“
„Nicht Schmerz, hoffe ich“, sagte der Vikar.
„Oh, nein! Es ist ganz anders als das – eine Art Leeregefühl.“
„Vielleicht ist der atmosphärische Druck ein wenig anders“, begann der Vikar, sein Kinn befühlend.
„Und weißt du, ich habe auch die merkwürdigsten Empfindungen in meinem Mund – beinahe als ob – es ist so absurd! – als ob ich Dinge hineinstopfen wollte.“
„Oh Gott!“ sagte der Vikar. „Natürlich! Sie sind hungrig!“
„Hungrig!“ sagte der Engel. „Was ist das?“
„Essen Sie nicht?“
„Essen! Das Wort ist ganz neu für mich.“
„Nahrung in den Mund geben, verstehen Sie.
Man muß es hier tun. Sie werden es bald erfahren. Wenn man es nicht macht, wird man dünn und fühlt sich elend und leidet starke Schmerzen, verstehen Sie – und schließlich stirbt man.“
„Stirbt man!“ sagte der Engel. „Das ist ein weiteres seltsames Wort!“
„Hier ist es nicht fremd. Es bedeutet aufhören, verstehen Sie“, sagte der Vikar.
„Wir hören nie auf“, sagte der Engel.
„Sie wissen gar nicht, was Ihnen in dieser Welt zustoßen kann“, sagte der Vikar und dachte über ihn nach. „Möglicherweise könnten Sie, wenn Sie Hunger verspüren und Schmerz fühlen und wenn Ihre Flügel brechen können, sogar auch sterben, ehe Sie wieder aus dieser Welt herauskommen. Auf jeden Fall wäre es für Sie besser, wenn Sie versuchen würden zu essen. Was mich betrifft – hm! – es gibt viel unangenehmere Dinge.“
„Ich glaube, ich sollte wirklich essen“, sagte der Engel. „Wenn es nicht zu schwierig ist. Ich mag diesen ,Schmerz’ von euch nicht, und ich will dieses ‚Hungrig’ nicht. Wenn euer ‚Sterben’ irgend etwas Ähnliches ist, würde ich lieber essen. Was für eine äußerst merkwürdige Welt das ist!“
„Das Sterben“, sagte der Vikar, „hält man im allgemeinen für schlimmer als Schmerz oder Hunger ... je nachdem.“
„Du mußt mir das alles später erklären“, sagte der Engel. „Es sei denn, ich wache auf. Jetzt bitte zeige mir, wie man ißt. Wenn du nichts dagegen hast. Irgendwie verspüre ich ein dringendes Bedürfnis ...“
„Verzeihen Sie“, sagte der Vikar und bot ihm seinen Arm an. „Gestatten Sie mir das Vergnügen, Sie zu bewirten. Mein Haus liegt dort drüben – nicht einmal zwei Meilen von hier.“
„Dein Haus!“ sagte der Engel ein wenig verwirrt; aber er nahm freundschaftlich den Arm des Vikars, und die zwei setzten die Unterhaltung im Gehen fort, wateten langsam durch das üppige, sonnengefleckte Farnkraut unter den Bäumen, gingen weiter über den Zauntritt in den Parkzäunen, und gelangten so auf dem Weg, der eine oder mehrere Meilen über die von Bienen wimmelnde Heide und dann den Berghang hinunter führte, nach Hause.
Der Anblick dieses Paares hätte Sie entzückt.
Der Engel, schmächtig von Gestalt, kaum fünf Fuß groß und mit einem schönen, beinahe mädchenhaften Gesicht, das ein alter italienischer Meister gemalt haben könnte. (Tatsächlich gibt es einen in der Nationalgalerie, Tobias und der Engel, von einem unbekannten
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