Wie weit du auch gehst ... (German Edition)
1.
Gescheiterte Träume
» A utsch!« Constanze schnappte nach Luft. Vorsichtig betastete sie die schmerzende Stelle. Der blaue Fleck lief quer über ihre linke Schläfe und hob sich im Spiegel deutlich von ihrer hellen Haut ab. Die Prellung tat nicht nur entsetzlich weh, sie sah auch dementsprechend übel aus. So konnte sie das nicht lassen. Nicht heute Abend.
Mit zitternden Händen griff sie nach dem Make-up-Fläschchen und schraubte den massiven Deckel ab. In weniger als einer Stunde begann die Galaveranstaltung der »Children for Future«-Stiftung, bei der sie später in den 43. Geburtstag ihres Mannes hineinfeiern wollten. Sie hatte nicht mehr viel Zeit. Michael würde in einer halben Stunde aus dem Club kommen, bis dahin musste sie fertig sein. Ihr Mann saß im Vorstand der Stiftung und sie hatte an seiner Seite strahlend zu lächeln.
Michael von Richtstetten war sehr stolz auf sie, dennoch tat er durch Fitness und regelmäßige Kosmetikerbesuche alles dafür, damit man ihnen die achtzehn Jahre Altersunterschied nicht auffällig ansah.
Constanzes Blick in den Spiegel blieb an dem edlen Dolce-Gabbana-Abendkleid hängen, das schräg hinter ihr auf einem Bügel an der Halterung der gigantischen Schrankwand auf seinen Einsatz wartete. Die Spiegelbeleuchtung ließ den raffiniert geschnittenen dunkelgrünen Satinstoff geheimnisvoll glänzen. Sie seufzte. Am liebsten hätte sie das Kleid wieder in den Schrank gehängt, Jeans und Rolli angezogen und einen gemütlichen Abend zu Hause verbracht, doch ihre Anwesenheit auf der Gala war unvermeidlich. Genauso wie ihr perfektes Aussehen. Genauso wie alles, was Michael anordnete. Constanze verzog die Mundwinkel. Ihr Mann, der einflussreiche, allseits beliebte Lebemann, das angesehene Mitglied der High Society von Baden-Baden. Freundlich, immer einen passenden Satz auf den Lippen, stets zuvorkommend gegenüber seinen Geschäftspartnern – und stets brutal zu seiner Frau. Sobald die Öffentlichkeit hinter den schalldichten Türen der Villa zurückblieb, verwandelte sich Mr. Perfekt in ein brutales Schwein.
Sachte tupfend verteilte sie Make-up über der blau verfärbten Stelle ihres Gesichts. Der Fleck wurde zu einem Schatten und verschwand schließlich. Allein der Gedanke an den Grund, weshalb sie überhaupt stark deckendes Make-up besaß, ließ ihr übel werden. Noch schlimmer wurde es, wenn sie sich vor Augen hielt, dass sie schon nahezu fünf Jahre durch eine Hölle ging, die sich Ehe nannte. Für das Leben an Michaels Seite gab es keine treffendere Bezeichnung – selbst nicht für jemanden, der eine derart bescheidene Vergangenheit hatte wie sie.
Als Constanze vor zweieinhalb Jahren Eliah zur Welt gebracht hatte, hegte sie die naive Hoffnung, die krankhafte Eifersucht ihres Mannes damit ein wenig besänftigen zu können. Sie hatte sich geirrt. Nicht das Geringste hatte sich geändert.
Doch. Sie schluckte. Eine Sache … Er schlug sie mittlerweile nicht mehr gelegentlich, er schlug sie ständig. Aus jedem unerfindlichen Grund, mochte er noch so absurd sein. Aus Banalitäten heraus, deren Verfehlungen sich nur ihm allein erschlossen. Als Constanze die Leere ihrer Augen im Spiegel auffiel, ließ sie die Hände sinken. Wo war das leuchtende Tiefbraun geblieben? Wann war sie dermaßen abgestumpft?
Nicht einmal in ihren elendsten Kindertagen im Waisenhaus hatten ihre Augen jenen lebhaften Glanz verloren. Wie viel Zeit blieb ihr noch? Wie viel konnte sie noch einstecken, bis sie endgültig an dieser Ehe zerbrach? Schon seit geraumer Zeit fragte das eine immer lauter werdende Stimme in ihrem Kopf. Sie war nicht mehr allein, sie musste an Eliah denken. Was, wenn Michael ihm in seiner unkontrollierten Wut ebenfalls Gewalt antat?
Diese Möglichkeit jagte ihr furchtbare Angst ein. Es war schlimm genug, dass ihr Sohn von Geburt an ein leicht deformiertes Bein hatte. Doch die Art, wie Michael mit Eliah umsprang … All dieser Hass. Lieber Gott, Eliah war doch ein Baby. Constanzes Herz krampfte sich zusammen. Niemals würde sie zulassen, dass ihrem Sohn Leid geschah. Sie setzte alles daran, Michaels Aufmerksamkeit möglichst von ihm fernzuhalten. Leider war das nicht immer einfach, vor allem nicht, wenn Eliah nachts weinte. Obwohl sie dann sofort aus dem Bett schlüpfte, um ihn zu beruhigen, konnte sie meistens nicht verhindern, dass Michael ebenfalls wach wurde. Das zog eine von zwei Konsequenzen nach sich: Entweder, er wurde wütend, was sie unverzüglich
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