Der Besuch
Auf Bildern und in Büchern natürlich unzählige Male. Aber ich habe einige seit dem Sonnenaufgang gesehen, richtige Menschen aus Fleisch und Blut, außerdem ein Pferd oder etwas ähnliches ... du weißt, diese Einhörner ohne Horn – und eine ganze Menge von diesen komischen klumpigen Dingern, die man ,Kühe’ nennt. Natürlich flö
ßten mir diese Vielzahl mythischer Ungeheuer ein wenig Furcht ein, und ich kam hierher, um mich zu verstecken, bis es dunkel ist. Ich vermute, es wird bald wieder dunkel werden, so wie es zuerst war. Buh! Euer Schmerz ist ein schlechter Spaß. Ich hoffe, ich werde gleich aufwachen.“
„Ich verstehe Sie nicht ganz“, sagte der Vikar, runzelte die Brauen und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Mythisches Ungeheuer!“ Das Schlimmste, was man ihn bisher genannt hatte, war „mittelalterlicher Anachronismus“ (dies hatte ein Verfechter der Trennung von Kirche und Staat getan). „Verstehe ich recht, daß Sie mich als – als etwas in einem Traum betrachten?“
„Natürlich“, sagte der Engel lächelnd.
„Und diese Welt um mich herum, diese knorrigen Bäume und ausgebreiteten Farne ...“
„Gleichen so sehr einem Traum“, sagte der Engel. „Genau das, wovon jemand träumt –
oder was Künstler ersinnen.“
„Dann gibt es also Künstler unter den Engeln?“
„Alle Arten von Künstlern. Engel mit wunderbarer Phantasie, die Menschen erfinden und Kühe und Adler und tausend andere unmögliche Geschöpfe.“
„Unmögliche Geschöpfe!“ sagte der Vikar.
„Unmögliche Geschöpfe“, sagte der Engel.
„Mythen.“
„Aber ich bin wirklich!“ sagte der Vikar. „Ich versichere Ihnen, daß ich wirklich existiere.“ Der Engel zuckte seine Flügel, fuhr zusammen und lächelte. „Ich kann immer genau sagen, wann ich träume“, sagte er.
„Sie – träumen“, sagte der Vikar. Er schaute um sich.
„Sie und träumen!“ wiederholte er. Sein Verstand war Verwirrung.
Er streckte seine Hand aus, alle Finger in Bewegung. „Ich hab’s!“ sagte er. „Langsam verstehe ich.“ Eine ganz hervorragende Idee dämmerte ihm. Nicht umsonst hatte er in Cambridge Mathematik studiert. „Bitte, nennen Sie mir einige Tiere Ihrer Welt ..., Ihrer wirklichen Welt, wirkliche Tiere, verstehen Sie?“
„Wirkliche Tiere!“ sagte der Engel lächelnd.
„Warum – es gibt Greife und Drachen – und Jabberwocks – und Cherubime – und Sphinxe
– und den Hippogryph – und Nixen – und Satyrn – und ...“
„Danke“, sagte der Vikar, als sich der Engel für dieses Aufzählen zu erwärmen schien;
„danke. Das genügt vollauf. Langsam verstehe ich.“
Er hielt für einen Augenblick inne und zog das Gesicht in Falten. „Ja ... langsam verstehe ich.“
„Was verstehen?“ fragte der Engel.
„Die Greife und Satyrn und so weiter. Es ist so klar wie ...“
„Ich sehe sie nirgends“, sagte der Engel.
„Nein, der Witz an der Sache ist, daß sie in dieser Welt nicht gesehen werden können.
Aber unsere Männer von Phantasie haben uns alles über sie erzählt, verstehen Sie. Und sogar ich habe manchmal ... es gibt Orte in diesem Dorf, wo du entweder das, was sie dir auftischen, einfach hinnehmen mußt, wenn du nicht Anstoß erregen willst – ich, das wollte ich sagen, habe in meinen Träumen Jabberwocks, Untiere, Alraune gesehen ... Von unserem Standpunkt aus, wissen Sie, sind es Geschöpfe des Traums ...“
„Geschöpfe des Traums!“ sagte der Engel.
„Wie eigenartig! Das ist ein sehr seltsamer Traum. Eine Art Traum, in dem alles auf den Kopf gestellt wird. Du nennst Menschen wirklich und Engel mythisch. Man wird fast zu der Annahme verleitet, daß es auf irgendeine sonderbare Weise sozusagen zwei Welten geben muß ...“
„Wenigstens zwei“, sagte der Vikar.
„Die irgendwo nahe beieinanderliegen, und doch kaum ahnen ...“
„So nahe beieinander wie die Seiten eines Buches.“
„Sie durchdringen einander, und jede hat ihre eigene Wirklichkeit. Das ist wahrlich ein köstlicher Traum!“
„Und träumen nie von einander.“
„Außer wenn Leute anfangen zu träumen!“
„Ja“, sagte der Engel nachdenklich. „So irgendwie muß es sein. Und da fällt mir etwas ein. Manchmal, wenn ich einschlief oder in der Mittagssonne döste, sah ich sonderbar verrunzelte Gesichter wie deines, die an mir vorüberzogen, und Bäume mit grünen Blättern daran, und solch sonderbaren, unebenen Boden wie diesen ... Es muß so sein. Ich bin in eine andere Welt
Weitere Kostenlose Bücher