Der Besuch
Gesellschaft vorkommen werden. Es gibt bei uns ein kleines Sprichwort: ,Man muß, hm, mit den Wölfen heulen.’ Ich kann Ihnen das nur ans Herz legen, vorausgesetzt, es liegt Ihnen daran, hm, Umgang mit uns zu pflegen – während Ihres unfreiwilligen Aufenthalts ...“
Einen Schritt wich der Engel zurück, als der Vikar bei seinem Versuch, diplomatisch und vertraulich zu sein, immer näher kam. Bestürzung zeichnete sich in dem schönen Gesicht ab.
„Ich verstehe nicht ganz. Weshalb machst du fortwährend solche Geräusche in deiner Kehle? Ist es ‚Sterben’ oder ,Essen’, oder etwas in dieser Art ...“
„Als Ihr Gastgeber“, unterbrach der Vikar und blieb stehen.
„Als mein Gastgeber“, sagte der Engel.
„Hätten Sie etwas dagegen, sich, bis eine dauerhaftere Lösung gefunden ist, mit, hm, einem Anzug zu bekleiden, einem völlig neuen Anzug, wenn ich so sagen darf, mit so einem, wie ich ihn trage?“
„Oh!“ sagte der Engel. Er trat zurück, so daß er den Vikar vom Scheitel bis zur Sohle mustern konnte. „Kleider tragen wie die deinen!“ sagte er. Er war verwirrt, aber auch belustigt.
Seine Augen wurden groß und hell, an seinen Mundwinkeln bildeten sich Fältchen.
„Entzückend!“ sagte er und klatschte in die Hände. „Was für ein verrückter, seltsamer Traum das ist! Wo sind sie?“ Er griff nach dem Kragen der safrangelben Robe.
„Im Haus!“ sagte der Vikar. „Hier entlang.
Wir werden die Kleider im Haus wechseln!“ 12
So wurde der Engel mit einer Unterhose aus dem Besitz des Vikars, einem Hemd, das am Rücken aufgeschnitten wurde, um den Flügeln Platz zu schaffen, Socken, Schuhen – den Sonntagsschuhen des Vikars –, einem Kragen, einer Krawatte und einem leichten Überzieher bekleidet. Aber das Anlegen des letzteren bereitete Schmerzen und erinnerte den Vikar daran, daß der Verband nur eine Notlösung war. „Ich werde sofort nach dem Tee läuten und Grummet zu Crump hinunterschicken“, sagte der Vikar. „Und das Dinner soll früher serviert werden.“ Während der Vikar seine Anordnungen über das Treppengeländer rief, begutachtete sich der Engel mit grenzenlosem Entzücken im Ankleidespiegel. Wenn er schon ein Neuling in Sachen Schmerz war, so war er doch offenbar kein Neuling darin – vielleicht dank des Träumens – an Ungereimtheiten Vergnügen zu finden.
Sie tranken den Tee im Salon. Der Engel saß auf dem Klavierhocker (Klavierhocker wegen der Flügel). Zuerst wollte er sich auf den Kaminvorleger legen. In den Kleidern des Vikars sah er viel weniger strahlend aus als über dem Moor, als er Safrangelb getragen hatte. Sein Gesicht leuchtete noch immer, die Farbe seiner Haare und Wangen war seltsam hell, und in den Augen strahlte überirdisches Licht, aber die Flügel unter dem Überzieher gaben ihm das Aussehen eines Buckligen. Tatsächlich machten die Kleider ein recht irdisches Wesen aus ihm, die Hose bildete Querfalten, und die Schuhe waren etwa eine Nummer zu groß.
Er war bezaubernd leutselig und der elementaren Grundsätze der Zivilisation völlig unkundig. Essen lernte er ohne große Schwierigkeiten, und der Vikar verbrachte ergötzliche Augenblicke, als er ihn lehrte, wie man Tee macht. „Was für ein Schmutz das ist!
In welch seltsam grotesker, häßlicher Welt du lebst!“ sagte der Engel. „Sich vorzustellen, daß man Dinge in seinen Mund stopft! Wir verwenden den Mund nur zum Sprechen und Singen.
Unsere Welt, weißt du, ist beinahe unverbesserlich schön. Bei uns gibt es so wenig Häßlichkeit, daß ich all das ... entzückend finde.“ Mrs. Hinijer, die Haushälterin des Vikars, blickte argwöhnisch auf den Engel, als sie den Tee brachte. Sie hielt ihn eher für einen „sonderbaren Kauz“. Was sie gedacht haben würde, hätte sie ihn in Safrangelb gesehen, läßt sich nicht abschätzen.
Der Engel schlurfte mit der Teeschale in der einen und dem Butterbrot in der anderen Hand im Zimmer umher und untersuchte das Mobiliar des Vikars. Draußen vor den Verandatüren leuchtete der Rasen mit seinen Reihen von Dahlien und Sonnenblumen im warmen Sonnenschein, und Mrs. Jehorams Sonnenschirm stand darauf wie ein Dreieck aus Feuer.
Er hielt das Porträt des Vikars über dem Kamin wahrlich für sehr seltsam und konnte nicht verstehen, wozu es dort stand. „Du hast doch runde Formen“, sagte er, bezugnehmend auf das Porträt, „warum möchtest du flach sein?“ Und er war ungeheuer belustigt über den Ofenschirm aus Glas. Er fand die Eichensessel
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