Der Besucher - Roman
zahllose Kratzspuren, die er oder seine Vorgänger dort hinterlassen hatten.
Caroline betrat den Raum schwer beladen mit einem Tablett voller Teegeschirr. Roderick hielt sich an der Sofalehne fest und versuchte sich hochzustemmen, um ihr zu helfen, doch ich kam ihm zuvor.
»Darf ich Ihnen etwas abnehmen?«
Sie warf mir einen dankbaren Blick zu, wohl weniger ihretwegen als vielmehr ihres Bruders wegen, sagte jedoch: »Kein Problem. Sie wissen doch, ich bin es gewöhnt.«
»Dann lassen Sie mich wenigstens einen Platz freiräumen, wo Sie es abstellen können.«
»Nein, überlassen Sie das ruhig mir! So kann ich wenigstens für den Fall trainieren, dass ich mir mal in einem Gasthaus den Lebensunterhalt verdienen muss. Gyp, jetzt dräng dich doch nicht immer so um meine Füße!«
Also trat ich beiseite, und sie stellte das Tablett auf einen mit Büchern und Papieren übersäten Tisch, schenkte dann den Tee ein und reichte die Tassen herum. Die hübschen Tassen waren aus wertvollem, altem Porzellan; eine oder zwei hatten schon geklebte Henkel; ich bemerkte, wie sie diese für die Familie zurückhielt. Danach reichte sie Teller mit Kuchen herum, dünn geschnittenes Früchtebrot, das erahnen ließ, dass sie aus einem bescheidenen Vorrat das Beste hatte machen müssen.
»Ach, was würde ich jetzt für ein schönes Scone mit Marmelade und Sahne geben!«, seufzte Mrs. Ayres, während die Teller herumgereicht wurden. »Oder wenigstens für ein paar richtig gute Kekse! Die würde ich mir vor allem für Sie wünschen, Dr. Faraday, gar nicht mal für uns. Unsere Familie hat nie viel für Naschereien übriggehabt. Und eigentlich …«, wieder lächelte sie verschmitzt, »sollte man ja erwarten, dass wir mit unserem Milchbetrieb wenigstens Butter zur Verfügung hätten. Aber das Schlimmste an den Rationierungen ist, dass man kaum mehr Möglichkeiten hat, Gäste zu bewirten. Das finde ich wirklich sehr schade.«
Sie seufzte, zerbrach ihren Kuchen in kleine Stücke und tauchte sie geziert in ihren Tee ohne Milch. Caroline hatte, wie ich bemerkte, ihr Früchtebrot in der Mitte zusammengeklappt und in zwei Bissen aufgegessen. Roderick hatte seinen Teller zunächst beiseitegestellt, um sich ganz seiner Zigarette zu widmen, pickte dann träge die geriebenen Orangenschalen und Rosinen heraus und warf den Rest seines Kuchens Gyp zu.
»Roddie!«, rief Caroline vorwurfsvoll. Ich dachte, sie würde sich über die Verschwendung von Essen aufregen, doch dann stellte sich heraus, dass es ihr lediglich missfiel, dass ihr Bruder dem Hund Unarten beibrachte. Sie blickte das Tier streng an. »Du alter Schurke! Du weißt ganz genau, dass du nicht betteln darfst! Sehen Sie doch nur, wie er mich von der Seite anschaut, Dr. Faraday. Dieser alte Schlauberger!« Sie streifte eine Sandale ab, streckte das Bein aus – ihre Beine waren, wie ich nun sah, nackt, braungebrannt und unrasiert – und stupste den Hund mit den Zehen an.
»Armer alter Knabe!«, kommentierte ich höflich den traurigen Gesichtsausdruck des Hundes.
»Lassen Sie sich von ihm bloß nicht einwickeln! Er gibt gerne das arme Unschuldslämmchen. Stimmt’s, du Schlingel?«
Sie stupste ihn wieder mit dem Fuß an und wandelte dann das Stupsen in ein raues Streicheln um. Der Hund musste erst kämpfen, um unter dem Druck des Fußes das Gleichgewicht zu halten; dann legte er sich mit dem resignierten, etwas verdutzten Ausdruck eines hilflosen alten Mannes zu ihren Füßen nieder, rollte sich auf die Seite und zeigte mit erhobenen Beinen sein graues Brustfell und den spärlich behaarten Bauch. Caroline streichelte ihn fester mit dem Fuß.
Ich bemerkte, wie Mrs. Ayres einen vorwurfsvollen Blick auf das behaarte Bein ihrer Tochter warf.
»Also wirklich, Liebling. Ich wünschte, du würdest dir Strümpfe anziehen! Dr. Faraday wird uns für eine Horde Barbaren halten.«
Caroline lachte. »Es ist viel zu warm für Strümpfe! Und ich kann mir kaum vorstellen, dass Dr. Faraday noch nie ein nacktes Bein gesehen hat!«
Trotzdem zog sie kurz darauf ihr Bein zurück und nahm eine sittsamere Sitzhaltung ein. Der enttäuschte Hund blieb noch einen Moment mit erhobenen Beinen auf dem Rücken liegen. Dann rollte er sich wieder auf den Bauch zurück und begann mit feuchter Schnauze an einer seiner Pfoten herumzukauen.
Der Qualm von Rodericks Zigarette hing bläulich in der heißen, unbewegten Luft. Im Garten stieß ein Vogel ein markantes Trillern aus, und wir wandten die Köpfe und lauschten. Ich
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