Der Besucher - Roman
gegangen ist, oder?«
»Auf jeden Fall hat sie einen vom Zirkus geheiratet«, sagte Mrs. Ayres. »Und hat ihrer Mutter damit das Herz gebrochen. Und ihrer Cousine auch, denn die Cousine – Lavender Hewitt – hatte sich auch in den Mann vom Zirkus verliebt, und als das andere Mädchen dann mit dem Zirkusmann durchgebrannt ist, hat Lavender aufgehört zu essen und wäre bestimmt verhungert. Gerettet haben sie bloß die Kaninchen, pflegte ihre Mutter immer zu sagen. Denn sie konnte allen Mahlzeiten widerstehen, bloß nicht dem Kaninchenschmortopf ihrer Mutter. Eine Zeit lang haben wir ihrem Vater erlaubt, mit einem Frettchen die Kaninchen in unserem Park zu jagen; er durfte so viele Kaninchen jagen, wie er wollte … Und diese Kaninchen haben ihr das Leben gerettet …«
Die Geschichte plätscherte immer weiter dahin; Caroline und Roderick gaben neue Stichworte, und die drei sprachen eher miteinander als mit mir. Derart von der Unterhaltung ausgeschlossen, blickte ich von der Mutter zur Tochter und dann zum Sohn, und da fiel mir endlich auf, wie ähnlich sie einander doch waren, nicht bloß in ihren äußeren Merkmalen – den langen Gliedern, den weit oben im Gesicht liegenden Augen –, sondern vor allem in charakteristischen Eigenarten der Gestik und Sprache, in denen sich ihre Sippenzugehörigkeit auszudrücken schien. Plötzlich verspürte ich einen Anflug von Ungeduld – das kurze Aufflackern einer tief liegenden Abneigung, die meine Freude an dem wundervollen Raum etwas trübte. Vielleicht war es ja das Bauernblut in mir, das plötzlich aufwallte. Hundreds Hall war von eben jenen Menschen aufgebaut und instand gehalten worden, über die sie sich jetzt lustig machten. Nach über zweihundert Jahren hatten diese Menschen nun allmählich begonnen, dem Haus ihr Vertrauen und ihre Arbeitskraft zu entziehen, und schon fiel das ganze Gebäude in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Und währenddessen saß die Familie ungerührt weiter inmitten von bröckelndem Stuck, fadenscheinigen türkischen Teppichen und angeschlagenem Porzellan und spielte Landadel.
Gerade erinnerte Mrs. Ayres sich an ein weiteres Hausmädchen. »Ach, die, die war doch schwachsinnig!«, sagte Roderick.
»Sie war nicht schwachsinnig «, erklärte Caroline versöhnlich. »Aber es stimmt, sie war nicht besonders helle. Ich kann mich noch erinnern, dass sie mich mal gefragt hat, was Siegellack sei, und ich habe ihr weisgemacht, dass man damit die Zimmerdecken versiegelt. Ich habe sie auf eine Leiter steigen lassen und ihr gesagt, sie solle es ruhig mal an der Decke von Vaters Arbeitszimmer ausprobieren. Es hat eine ziemliche Schweinerei gegeben, und das arme Mädchen hat sich furchtbaren Ärger eingehandelt.«
Sie schüttelte verlegen den Kopf, musste aber gleichzeitig lachen. Dann bemerkte sie wohl meinen kühlen Blick und versuchte ihr Lächeln zu unterdrücken.
»Tut mir leid, Dr. Faraday. Ich merke schon, dass Sie das nicht besonders amüsant finden. Und recht haben Sie. Rod und ich waren furchtbare Kinder, aber inzwischen benehmen wir uns sehr viel besser. Ich nehme an, Sie haben an die arme Betty gedacht?«
Ich trank einen Schluck Tee. »Nein, gar nicht. Um ehrlich zu sein musste ich gerade an meine Mutter denken.«
»Ihre Mutter?«, wiederholte sie, immer noch mit einer Spur von Lachen in der Stimme.
Und in die nun folgende Stille sprach Mrs. Ayres: »Aber natürlich. Ihre Mutter war früher einmal Kindermädchen hier, nicht wahr? Ich erinnere mich, das mal gehört zu haben. Wann war das? Das muss vor meiner Zeit gewesen sein, nicht wahr?«
Sie sprach so sanft und freundlich, dass ich mich für meinen spitzen Tonfall schon fast wieder schämte. »Meine Mutter war bis ungefähr neunzehnhundertsieben hier«, sagte ich etwas versöhnlicher. »Hier hat sie auch meinen Vater kennen gelernt, er war damals Laufbursche bei einem Lebensmittelhändler. Eine Hintertürromanze, so würde man es wohl nennen.«
»Wie nett!«, sagte Caroline mit unsicherer Stimme.
»Ja, nicht wahr?«
Roderick klopfte noch etwas Asche von seiner Zigarette ab und schwieg. Mrs. Ayres jedoch blickte nachdenklich drein.
»Wissen Sie was«, meinte sie, während sie sich erhob. »Ich glaube tatsächlich … Wenn mich nicht alles täuscht …«
Sie ging zu einem Tischchen hinüber, auf dem eine Reihe gerahmter Familienfotos stand. Eines davon griff sie heraus, hielt es auf Armeslänge vor sich ausgestreckt und musterte es; dann schüttelte sie den Kopf.
»Ohne meine
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