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Der Besucher - Roman

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Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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krampfhaft bemühte, es zu verbergen.
    Caroline war den Tee holen gegangen und hatte den Hund mitgenommen. Mrs. Ayres erkundigte sich nach Bettys Befinden und schien sehr erleichtert zu sein, dass es keine ernsthaften Probleme gab.
    »Wie lästig für Sie, dass Sie extra so weit hier rausfahren mussten!«, sagte sie. »Sie sind bestimmt sehr viel schwerere Fälle gewöhnt …«
    »Ich bin Hausarzt«, erwiderte ich. »Da habe ich überwiegend mit Ausschlägen und Schnittverletzungen an der Hand zu tun, fürchte ich.«
    »Jetzt untertreiben Sie aber bestimmt – obwohl ich mir auch nicht vorstellen kann, dass sich die Qualität eines Arztes ausschließlich daran bemessen lässt, wie schwer seine Fälle sind. Eigentlich sollte es doch eher umgekehrt sein.«
    Ich lächelte. »Ach, wissen Sie, jeder Arzt hat gern ab und zu mal eine Herausforderung. Während des Krieges habe ich einige Zeit in einem Militärkrankenhaus gearbeitet, in Rugby. Das war schon eine interessante Zeit.« Ich blickte zu ihrem Sohn hinüber, der eine Dose Tabak und ein Päckchen Zigarettenpapier hervorgeholt hatte und sich eine Zigarette drehte. »Zufällig habe ich damals auch ein wenig Erfahrungen mit Muskelbehandlungen gemacht. Elektrotherapie und Ähnliches.«
    Er stöhnte auf. »Dazu wollten sie mich nach meinem Absturz auch überreden. Aber ich konnte mir nicht erlauben, so lange vom Anwesen wegzubleiben.«
    »Schade.«
    Mrs. Ayres sagte: »Roderick war bei der Air Force, wie Sie wahrscheinlich schon wissen, Herr Doktor.«
    »Ja. Was haben Sie denn da für Einsätze miterlebt? Muss ziemlich schlimm gewesen sein, oder?«
    Er legte den Kopf schief und reckte das Kinn vor, um seine Narben zu zeigen.
    »Könnte man meinen, wenn man sich die hier ansieht, nicht wahr? Aber ich habe die meiste Zeit mit Aufklärungsflügen verbracht; von daher kann ich nicht allzu viel Ruhm für mich beanspruchen. Über der Südküste hatte ich schließlich ein bisschen Pech. Doch den anderen Kerl hat es noch viel schlimmer erwischt: ihn und meinen Navigator, den armen Teufel. Ich hab bloß diese hübschen Schönheitsflecken und ein zerschmettertes Knie abbekommen.«
    »Das tut mir leid.«
    »Ach, wahrscheinlich haben Sie in Ihrem Krankenhaus in Rugby noch viel Schlimmeres gesehen. Aber – verzeihen Sie bitte mein unhöfliches Benehmen – darf ich Ihnen vielleicht auch eine Zigarette anbieten? Ich rauche so viele von den Dingern, dass ich es schon gar nicht mehr merke.«
    Die Zigarette, die er sich gedreht hatte, bot einen ziemlich traurigen Anblick – »Sargnagel« hatten wir als Medizinstudenten zu solchen Zigaretten gesagt –, und ich entschied, ihm seinen Tabak lieber zu lassen. Und obwohl ich selbst ein paar anständige Zigaretten in der Tasche hatte, ließ ich sie dort, um ihn nicht in Verlegenheit zu bringen. Daher schüttelte ich nur dankend den Kopf. Ich hatte ohnehin das Gefühl, dass er mir bloß eine Zigarette angeboten hatte, um vom Thema abzulenken.
    Vielleicht war seiner Mutter der gleiche Gedanke gekommen. Sie betrachtete ihren Sohn besorgt, wandte sich dann jedoch mir zu und lächelte. »Der Krieg kommt einem inzwischen so weit weg vor, nicht wahr? Und das nach nur zwei Jahren, man glaubt es kaum. Wir hatten übrigens während des Krieges eine Einheit der Armee hier einquartiert. Die haben uns allerlei Merkwürdiges im Park hinterlassen: Stacheldraht, Eisenplatten. Die rosten inzwischen vor sich hin, wie Spuren aus einem früheren Zeitalter! Aber weiß der Himmel, wie lange dieser Frieden noch anhalten wird. Ich verfolge die Nachrichten inzwischen nicht mehr; es ist zu beunruhigend. Die Welt scheint nur noch von Wissenschaftlern und Generälen regiert zu werden, die mit Bomben herumspielen wie eine Horde Schuljungen.«
    Roderick zündete ein Streichholz an. »Ach, uns hier auf Hundreds Hall wird schon nichts geschehen!«, murmelte er mit der Zigarette im Mund, während das Papier beängstigend dicht vor seinen vernarbten Lippen aufflammte. »Hier draußen, das ist doch der Inbegriff idyllischen Lebens!«
    Während er noch sprach, hörte man Gyps Krallen über den Marmorboden des Flurs klickern wie Perlen auf einem Rechenrahmen, und auch das schlappende Geräusch von Carolines flachen Sandalen kam näher. Der Hund stieß die Tür mit der Schnauze auf, was er offenbar häufig tat, denn der Türrahmen war an einer Stelle schon ziemlich dunkel, wohl weil er sich immer mit dem Fell daran rieb, und die schöne alte Tür zeigte im unteren Bereich

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