Der Besucher - Roman
werden.
Eine Terrassentür stand offen, dahinter führte eine weitere freischwebende Steintreppe zur Terrasse und den Rasenflächen auf der Südseite des Hauses hinunter. Auf der obersten Treppenstufe stand Mrs. Ayres, zog sich gerade ihre Gartensandalen aus und schob die bestrumpften Füße in ein Paar Schuhe hinein. Sie trug einen Hut mit breiter Krempe, den sie sich mit einem dünnen Seidenschal unter dem Kinn festgebunden hatte, und als ihre Kinder sie so sahen, lachten sie.
»Du siehst aus wie jemand aus den frühen Tagen des Motorsports, Mutter«, sagte Roderick.
»Ja«, meinte Caroline. »Oder wie ein Imker! Ich wünschte, du wärest einer; das wäre doch schön, wenn wir Honig hätten! Sieh mal, Dr. Faraday ist hier, Dr. Grahams Kollege aus Lidcote. Er hat schon nach Betty gesehen, und ich habe ihm vorgeschlagen, dass er doch zum Tee bleiben soll.«
Mrs. Ayres trat herein, nahm den Hut ab, ließ sich dabei den Seidenschal locker über die Schultern gleiten und streckte mir die Hand entgegen.
»Dr. Faraday, wie schön, dass wir Sie endlich persönlich kennen lernen können. Ich war gerade bei der Gartenarbeit – wenn man bei unserer Wildnis da draußen überhaupt noch von einem Garten reden kann. Ich hoffe also, dass Sie mir diesen sonntäglichen Aufzug verzeihen. Ist es nicht komisch?« Sie wischte sich mit dem Handrücken eine Haarsträhne aus der Stirn. »Als ich klein war, zog man sich sonntags seine besten Kleider an. Man musste mit weißen Spitzenhandschuhen auf dem Sofa sitzen und traute sich kaum, richtig Luft zu holen. Heute dagegen muss man sonntags schuften wie ein Müllmann – und sich auch genauso kleiden.«
Sie lächelte und dabei hoben sich ihre hohen Wangenknochen in dem herzförmigen Gesicht noch weiter und ihre hübschen dunklen Augen nahmen einen schelmischen Ausdruck an. Man hätte sich kaum jemanden vorstellen können, der weniger einem Müllmann glich, dachte ich, denn sie wirkte trotz des abgetragenen Leinenkleides äußerst gepflegt. Das lange Haar hatte sie locker aufgesteckt, so dass ihr anmutig geschwungener Nacken sichtbar wurde. Obwohl sie inzwischen Mitte fünfzig sein musste, hatte sie immer noch eine gute Figur, und ihr Haar war beinahe ebenso dunkel wie an dem Tag, als sie mir die Gedenkmünze zum Empire Day überreicht hatte und noch jünger gewesen sein musste, als ihre Tochter es heute war. Irgendetwas an ihr, vielleicht das Seidentuch oder der Schnitt ihres Kleides oder auch der Schwung ihrer schmalen Hüften, ließ sie wie eine Französin wirken – ganz im Gegensatz zu ihren Kindern, die mit ihren unscheinbar blond-braunen Haaren typisch englisch aussahen. Sie winkte mich zu einem der Sessel neben dem Kamin. Während sie sich selbst auf den anderen setzte, bemerkte ich die Schuhe, die sie sich gerade angezogen hatte. Sie waren aus dunklem Lackleder mit einem cremefarbenen Streifen und von so guter Qualität, dass sie mit Sicherheit noch vor dem Krieg angefertigt worden waren. Genau wie die meisten anderen gut gearbeiteten Damenschuhe wirkten sie in den Augen eines Mannes absurd aufwendig – wie eine zwar hübsch gemachte, aber sinnlose Spielerei – und irgendwie irritierend.
Auf einem Tischchen neben ihrem Sessel lagen einige klobige, altmodische Ringe, die sie sich nun, einen nach dem anderen, auf die Finger schob. Dabei glitt der seidene Schal von ihren Schultern und fiel zu Boden, woraufhin Roderick, der immer noch stand, sich in einer ungelenken Bewegung vorbeugte, um ihn aufzuheben, und ihn ihr wieder um den Hals legte.
»Mit meiner Mutter ist es immer wie bei einer Schnitzeljagd«, sagte er dabei zu mir. »Wo sie geht und steht, hinterlässt sie eine ganze Spur von Dingen.«
Mrs. Ayres rückte den Schal ordentlich zurecht, und ihre Augen nahmen wieder jenen schelmischen Ausdruck an.
»Da sehen Sie, wie meine Kinder mich behandeln, Dr. Faraday. Ich fürchte, eines Tages wird man mich einsam und zu Tode gehungert in meinem Bett auffinden wie eine dieser verwahrlosten alten Frauen.«
»Ach, ich denke schon, dass wir dir ab und zu mal einen Knochen hinwerfen werden, du armes altes Weib!«, meinte Roderick gähnend und ging zum Sofa hinüber. Er ließ sich langsam darauf nieder, und diesmal waren seine Unbeholfenheit und mangelnde Beweglichkeit nicht zu übersehen. Seine Wangen wurden blasser, und ich bemerkte ein leichtes Muskelzucken in seinem Gesicht und begriff endlich, wie sehr ihm sein verletztes Bein immer noch zu schaffen machte, obwohl er sich
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