Der blaue Mond
hasse ich auch neue Leute.
Ich hole tief Luft und versuche es noch einmal, spreche an dem Kloß in meinem Hals und dem Knoten in meinem Magen vorbei, entschlossen, sympathisch rüberzukommen, selbst wenn das heißt, dass ich es zunächst vortäuschen muss. »Du kannst malen, was du willst«, sage ich mit meiner heiter-freundlichen Stimme, die in meinem alten Leben, bevor meine gesamte Familie bei dem Unfall umkam und Damen mich rettete, indem er mich unsterblich machte, so ziemlich die einzige Stimme war, die ich je benutzt habe. »Du musst es nur hinkriegen, dass es echt aussieht wie ein Foto. Wir sollen sogar ein richtiges Foto benutzen, das zeigt, woher wir unsere Inspiration haben, und natürlich auch für die Benotung. Du weißt schon, um zu beweisen, dass wir das geschafft haben, was wir uns vorgenommen haben.«
Ich sehe Damen an, frage mich, ob er überhaupt irgendetwas davon mitbekommen hat, und ärgere mich, dass er lieber malt, als mit mir zu kommunizieren.
»Und was malt er?«, fragt Roman und nickt zu Damens Leinwand hin, einer perfekten Wiedergabe der blühenden Wiesen von Sommerland. Jeder Grashalm, jeder Wassertropfen, jedes Blütenblatt ist so leuchtend, so deutlich, so greifbar - es ist, als wäre man dort. »Sieht aus wie im Paradies.«
»Das ist es auch«, flüstere ich, so beeindruckt von Damens Bild, dass ich zu schnell geantwortet habe, ohne mir zu überlegen, was ich da sage. Sommerland ist nicht nur ein heiliger Ort, sondern auch unser geheimer Ort. Eines der vielen Geheimnisse, die ich für mich zu behalten versprochen habe.
Roman sieht mich mit hochgezogenen Brauen an. »Dann ist es also ein realer Ort?«
Doch ehe ich antworten kann, schüttelt Damen den Kopf. »Das wünscht sie sich«, sagt er. »Aber ich hab's mir ausgedacht, es existiert nur in meinem Kopf.« Dann wirft er mir einen Blick zu und hängt eine telepathische Botschaft an - Vorsicht.
»Wie willst du dann eine gute Note kriegen? Wenn du kein Foto hast, das beweist, dass es existiert?«, will Roman wissen, aber Damen zuckt nur die Achseln und malt weiter.
Doch weil Roman immer noch fragende Blicke zwischen uns hin und her wandern lässt, kann ich das nicht so stehen lassen. Also sehe ich ihn an und sage: »Damen hält nicht so viel davon, sich den Regeln zu unterwerfen. Er macht lieber seine eigenen.« Dabei denke ich an die vielen Male, die er mich überredet hat, die Schule zu schwänzen, auf der Rennbahn auf Pferde zu setzen und noch Schlimmeres.
Und als Roman nickt, sich seiner Leinwand zuwendet und Damen mir telepathisch einen Strauß roter Tulpen schickt, weiß ich, dass es funktioniert hat - unser Geheimnis ist sicher, und alles ist in Ordnung. Also tunke ich meinen Pinsel in die Farbe und mache mich an die Arbeit. Ich hoffe, dass es bald klingelt, damit wir zu mir nach Hause fahren und den richtigen Unterricht beginnen lassen können.
Nach dem Unterricht packen wir unsere Sachen zusammen und gehen zum Parkplatz. Trotz meines Vorsatzes, nett zu dem Neuen zu sein, muss ich grinsen, als ich sehe, dass er ganz auf der anderen Seite geparkt hat.
»Bis morgen«, rufe ich, froh, eine gewisse Distanz zwischen uns herstellen zu können.
Ich schließe mein Auto auf, werfe die Tasche hinein und will gerade einsteigen, als mir noch etwas einfällt. »Miles hat Probe, und ich fahre direkt nach Hause«, sage ich zu Damen. »Willst du nachkommen?«
Ich drehe mich um und sehe ihn zu meinem Erstaunen leicht schwankend und mit angestrengter Miene vor mir stehen. »Alles in Ordnung?« Ich hebe eine Hand an seine Wange, um nach Fieber oder kaltem Schweiß zu fühlen, nach irgendeinem Zeichen des Unwohlseins, obwohl ich eigentlich nicht damit rechne, eines zu finden. Und als Damen den Kopf schüttelt und mich ansieht, verliert er für den Bruchteil einer Sekunde jegliche Farbe. Doch nach einem Augenzwinkern ist es wieder vorbei.
»Entschuldige, ich habe - mein Kopf fühlt sich irgendwie seltsam an«, sagt er, zwickt sich in die Nasenwurzel und schließt die Augen.
»Aber ich dachte, du wirst nie krank, wir werden nie krank?«, sage ich, außer Stande, meine Beunruhigung zu verbergen, während ich nach meinem Rucksack angele. Ich denke, ein Schluck Unsterblichkeitssaft könnte ihm gut tun, da er so viel mehr braucht als ich. Und obwohl wir nicht genau wissen, warum, glaubt Damen, dass der Konsum von Unsterblichkeitssaft über sechs Jahrhunderte hinweg zu einer Art Abhängigkeit geführt haben könnte, sodass er Jahr für
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