Der blaue Mond
nur im Berufsleben einsetzt. In ihrem Privatleben neigt sie eher zur Leichtgläubigkeit.
Außer heute. Heute kauft sie mir kein Wort ab. Stattdessen sieht sie mich nur an. »Ich mache mir Sorgen um dich«, sagt sie.
»Mir geht's gut«, versichere ich ihr nickend und lächelnd, damit sie es mir abnimmt. »Ehrlich. Ich habe gute Noten, ich komme prima mit meinen Freunden aus, Damen und ich sind ...« Ich halte inne, als mir aufgeht, dass ich noch nie mit ihr über meine Beziehung gesprochen, sie nie richtig definiert und eigentlich alles so ziemlich für mich behalten habe. Und jetzt, da ich damit angefangen habe, weiß ich nicht, wie ich weiterreden soll.
Ich meine, uns als Freund und Freundin zu bezeichnen, klingt so banal und unangemessen, wenn man unsere Vergangenheiten, Gegenwarten und Zukünfte in Betracht zieht, weil uns doch unsere gemeinsame Geschichte zu so viel mehr als dem macht. Trotzdem werde ich uns nicht öffentlich als ewige Liebende oder Seelenverwandte ausrufen - der Kitschfaktor wäre einfach zu hoch. Und eigentlich möchte ich das Ganze am liebsten gar nicht definieren. Zurzeit bin ich sowieso schon verwirrt genug. Außerdem - was soll ich ihr schon sagen? Dass wir uns seit Jahrhunderten lieben, übers Knutschen aber noch nicht hinausgekommen sind?
»Also, mit Damen und mir - das läuft richtig gut«, sage ich schließlich und schlucke, weil ich gut statt super gesagt habe, was das erste wahre Wort sein könnte, das ich den ganzen Tag von mir gegeben habe.
»Dann war er also hier.« Sabine stellt ihre braunlederne Aktentasche auf den Fußboden und sieht mich an. Uns ist beiden bewusst, wie arglos ich in ihre professionelle Anwältinnen-Falle getappt bin.
Ich nicke und versetze mir innerlich selbst einen Fußtritt, weil ich darauf bestanden habe, uns bei mir zu treffen, statt bei ihm, was er eigentlich wollte.
»Dachte mir doch, dass ich sein Auto vorbeifahren gesehen habe.« Sie richtet den Blick auf mein unordentliches Bett mit den kreuz und quer herumliegenden Kissen und der zerdrückten Steppdecke, und als sie mich erneut ansieht, zucke ich unwillkürlich zusammen, vor allem, als ich ahne, was sie gleich sagen wird.
»Ever.« Sie seufzt. »Es tut mir leid, dass ich nicht so viel zu Hause bin und wir nicht mehr Zeit zusammen verbringen können. Aber auch wenn es so aussieht, als müssten wir den richtigen Umgang miteinander noch üben, sollst du wissen, dass ich für dich da bin. Wenn du je das Gefühl hast, mit jemandem sprechen zu müssen - ich höre dir zu.«
Ich presse die Lippen zusammen und nicke. Obwohl ich weiß, dass sie noch nicht fertig ist, hoffe ich, dass es bald vorbei ist, wenn ich nur ruhig bleibe.
»Wahrscheinlich denkst du, ich bin zu alt, um zu verstehen, was du gerade durchmachst, aber ich erinnere mich gut daran, wie es bei mir in deinem Alter war. Wie groß der ständige Druck sein kann, sich mit Models und Schauspielerinnen und anderen unmöglichen Bildern zu messen, die du im Fernsehen siehst.«
Ich weiche ihrem Blick aus und schärfe mir ein, nicht zu heftig zu reagieren und es mit meiner Verteidigung nicht zu übertreiben, da es wesentlich einfacher ist, wenn sie bei mir nur Essstörungen vermutet.
Seit ich vor einiger Zeit von der Schule suspendiert worden bin, hat mich Sabine noch genauer beobachtet als zuvor, und seit sie kürzlich mit einem Stapel Ratgeberbücher nach Hause kam - angefangen bei: Wie man in gestörten Zeiten wie diesen einen gesunden Teenager aufzieht, bis hin zu: Ihr Teenager und die Medien (und was Sie dagegen tun können!), ist es noch unendlich viel schlimmer geworden. Sie hat die kummervollsten Verhaltensprobleme von Teenagern mit Leuchtstift hervorgehoben und dann mich unter die Lupe genommen und nach Symptomen gesucht.
»Aber du sollst wissen, dass du ein sehr hübsches Mädchen bist, wesentlich hübscher, als ich es in deinem Alter war, und dass es nicht nur ein völlig unsinniges und unerreichbares Ziel ist, wenn du hungerst, um mit all diesen klapperdürren Promis mithalten zu können, die ihr halbes Leben in Entzugskliniken zubringen, sondern dass es dich letzten Endes auch krankmachen wird.« Sie wirft mir einen viel sagenden Blick zu und bemüht sich verzweifelt, mich mit ihren Worten zu erreichen. »Du musst wissen, dass du perfekt bist, so wie du bist, und es mir wehtut, dich so zu erleben. Falls es sich aber um Damen dreht, so kann ich nur sagen, dass ...«
»Ich bin nicht magersüchtig.«
Sie sieht mich an.
»Ich habe
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