Der blaue Mond
erscheinen. Gerade als ich mich frage, was das wohl heißen soll, erscheint in herrlichster kalligraphischer Schrift eine Definition auf dem Schirm: Der französische Ausdruck »l'heure bleue« oder »die blaue Stunde« bezeichnet die Stunde zwischen Tageslicht und Dunkelheit. Diese Zeit wird wegen der Qualität ihres Lichts gerühmt; auch ist in dieser Phase der Duft von Blumen am intensivsten.
Ich blinzele zum Bildschirm hin, sehe die Worte verblassen und das Bild eines Mondes an ihre Stelle treten - ein herrlicher Vollmond, der in einem wundervollen Blauton schimmert, einer Farbe, die fast der des Himmels gleichkommt ...
Und dann - und dann sehe ich mich - genau auf diesem Bildschirm. Ich trage Jeans und einen schwarzen Pulli, meine Haare hängen offen herab, und ich schaue aus dem Fenster auf genau diesen blauen Mond, sehe auf die Uhr, als würde ich auf etwas warten - etwas, das bald kommen soll. Und obwohl es ein seltsames, traumartiges Gefühl ist, einem Ich zuzuschauen, das nicht wirklich ich ist, fühle ich doch, was sie fühlt, und höre, was sie denkt. Sie geht irgendwohin, an einen Ort, den sie früher für tabu gehalten hat. Unruhig wartet sie auf den Moment, in dem der Himmel die gleiche Farbe annimmt wie der Mond, ein herrliches tiefes Dunkelblau ohne eine Spur von Sonne - und weiß, dass dies ihre einzige Chance bedeutet, zurück in dieses Zimmer zu finden und an einen Ort zurückzukehren, den sie bereits für verloren hielt.
Wie gebannt sehe ich weiter zu und schnappe nach Luft, als sie die Hand hebt, einen Finger auf die Kristallscheibe drückt und wieder in ihre Zeit zurückgezogen wird.
DREISSIG
Ich verlasse die Halle und sprinte die Treppe hinunter. Mein Blick ist verschwommen, und mein Herz schlägt so schnell, dass ich Romy und Rayne erst bemerke, als es bereits zu spät ist und ich Rayne unter mir begrabe. »O mein Gott, es tut mir ja so leid!« Ich bücke mich mit ausgestreckter Hand zu ihr hinab und erwarte, dass sie meine Hand ergreift, damit ich ihr auf die Beine helfen kann, wobei ich immer wieder frage, ob sie sich wehgetan hat. Als sie meine Geste ignoriert und sich mühsam aufrappelt, winde ich mich innerlich vor Verlegenheit. Sie streicht ihren Rock glatt und zieht die Kniestrümpfe hoch, während ich verblüfft zusehe, wie ihre aufgeschürften Knie augenblicklich heilen. Nie hätte ich in Betracht gezogen, dass die beiden wie ich sein könnten. »Seid ihr ... Seid ihr ...«
Doch noch ehe ich das Wort aussprechen kann, schüttelt Rayne den Kopf. »Das sind wir absolut nicht«, sagt sie, während sie dafür sorgt, dass ihre Kniestrümpfe auf genau gleicher Höhe sind. »Wir sind überhaupt nicht wie du«, knurrt sie und streicht ihren blauen Blazer und den karierten Rock glatt, ehe sie ihre wesentlich nettere Schwester ansieht, die den Kopf schüttelt.
»Rayne, bitte. Denk an deine Manieren.« Romy runzelt die Stirn.
Doch obwohl Rayne weiterhin finster dreinblickt, verliert ihre Stimme etwas von ihrem Groll, als sie es noch einmal bekräftigt. »Also, jedenfalls sind wir nicht wie du.«
»Dann ... Dann wisst ihr also über mich Bescheid?«, frage ich und höre Rayne denken: Mann, ja! Romy nickt ernst. »Und ihr findet, dass ich schlecht bin?«
Rayne verdreht die Augen, während Romy milde lächelt. »Bitte achte nicht auf meine Schwester«, sagt sie. »Wir denken nichts dergleichen. Wir haben gar nicht das Recht zu urteilen.«
Ich sehe zwischen ihnen hin und her, mustere ihre blasse Haut, die riesigen dunklen Augen, die wie mit dem Rasiermesser geschnittenen Ponyfransen und die schmalen Lippen. Ihre Gesichtszüge sind so übertrieben, dass sie aussehen wie lebendig gewordene Manga-Figuren. Unwillkürlich kommt mir der Gedanke, wie seltsam es ist, dass zwei Menschen äußerlich so gleich und innerlich so gegensätzlich sein können.
»Jetzt erzähl doch mal, was du erfahren hast«, fordert Romy mich lächelnd auf und setzt sich die Straße hinab in Bewegung, in der Annahme, dass wir ihr schon folgen werden - was wir auch tun. »Hast du all die Antworten gefunden, die du gesucht hast?«
Sogar mehr.
Ich bin perplex und sprachlos, seit die Kristallscheibe wieder dunkel geworden ist. Außerdem habe ich keine Ahnung, was ich mit dem Wissen anfangen soll, das ich erhalten habe, bin mir aber durchaus dessen bewusst, dass es das Potenzial birgt, nicht nur mein Leben zu verändern, sondern womöglich die ganze Welt. Und während ich zugeben muss, dass es ziemlich umwerfend ist,
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