Der blaue Mond
früher nicht einmal mit uns gesprochen haben, eine Party, die sich tagelang hinzieht, bis er schließlich rausgeworfen wird, weil er die Suite verwüstet hat. Er zwingt mich, alle möglichen abstoßenden Handlungen zu verfolgen, Dinge, die ich lieber nicht gesehen hätte, bis das Ganze im letzten Bild kulminiert, das ich an jenem Tag auf dem Kristall gesehen habe - der allerletzten Szene.
Ich falle rückwärts vom Sitz und lande mit verknoteten Gliedmaßen auf dem Boden, nach wie vor in Romans Bann, und komme erst zu mir, als die gesamte Schule immer wieder schrill und spöttisch »Freak!« brüllt. Voller Entsetzen muss ich zusehen, wie mein rotes Elixier aus der umgefallenen Flasche über die Tischplatte läuft und an den Seiten heruntertropft.
»Alles in Ordnung?«, fragt Roman und mustert mich, während ich mühsam aufstehe. »Ich weiß, wie hart das Zusehen ist. Glaub mir, Ever, ich kenne das. Aber es ist alles nur zum Besten, ganz ehrlich. Das wirst du mir wohl oder übel glauben müssen.«
»Ich habe gewusst, dass du es bist«, flüstere ich, während ich zitternd vor Wut vor ihm stehe. »Ich hab's von Anfang an gewusst.«
»Du hast es gewusst.« Er lächelt. »Du hast es gewusst. Ein Punkt für dich. Aber ich muss dich warnen - ich habe immer noch gut zehn Punkte Vorsprung.«
»Damit kommst du nicht durch«, sage ich und sehe voller Grauen zu, wie er den Mittelfinger in die Pfütze meines ausgelaufenen roten Safts tunkt und sich die Tropfen in so bedächtiger Weise auf die Zunge fallen lässt, dass es den Anschein hat, als wollte er mir damit etwas sagen, mir einen Hinweis geben.
Doch gerade als sich in meinem Kopf eine Idee zu entfalten beginnt, leckt er sich die Lippen und sagt: »Aber weißt du, genau da irrst du dich.« Er dreht den Kopf so, dass das Zeichen an seinem Hals zu sehen ist, das fein gearbeitete Ouroboros-Tattoo, das nun vor meinem Blick erscheint und wieder verschwindet. »Ich bin bereits damit durchgekommen, Ever.« Er lächelt. »Ich habe schon gewonnen.«
ACHTUNDZWANZIG
Ich bin nicht zum Kunstunterricht gegangen, sondern gleich nach der Mittagspause verschwunden. Nein, stimmt nicht. In Wahrheit bin ich mitten in der Mittagspause abgehauen. Sekunden nach meiner entsetzlichen Begegnung mit Roman bin ich (verfolgt von einem endlosen Chor von
Freak!
-Rufen) zum Parkplatz gerannt, in mein Auto gestiegen und davongerast.
Ich musste weg von Roman. Musste Distanz zwischen mich und sein gruseliges Tattoo legen - die kunstvolle Ouroboros-Schlange, die immer wieder auftaucht und dann wieder verschwindet, genau wie die an Drinas Handgelenk.
Das untrügliche Symbol, das Roman als bösartig gewordenen Unsterblichen ausweist - genau wie ich die ganze Zeit vermutet hatte.
Und obwohl Damen mich nicht vor ihnen gewarnt hat, ja nicht einmal von ihrer Existenz wusste, ehe Drina bösartig wurde, kann ich immer noch nicht fassen, dass ich so lange gebraucht habe, bis ich es kapiert hatte. Ich meine, auch wenn Roman isst und trinkt, auch wenn seine Aura sichtbar ist und seine Gedanken lesbar sind (na ja, jedenfalls für mich), begreife ich jetzt, dass alles reine Fassade war. Genau wie die Häuser der Filmkulissen in Hollywood, die mit großem Aufwand errichtet wurden, damit sie wie etwas aussehen, was sie nicht sind. Und genau das hat Roman getan - er hat gezielt die Fassade eines fröhlichen, unbeschwerten jungen Typen aus England mit einer hell leuchtenden Aura und hemmungslos lüsternen Gedanken projiziert, während er in seinem tiefsten Inneren alles andere als das ist.
Der echte Roman ist düster.
Und böse.
Und gefährlich.
Und alles Weitere, was insgesamt schlecht ergibt. Aber noch schlimmer ist die Tatsache, dass er vorhat, meinen Freund umzubringen, und ich nach wie vor nicht weiß, warum.
Denn das Motiv war das Einzige, was ich bei meinem kurzen und verstörenden Besuch in die Abgründe seiner Gedanken nicht gesehen habe.
Und das Motiv spielt eine wichtige Rolle, falls ich je gezwungen sein sollte, ihn umzubringen, da ich unbedingt auf das richtige Chakra zielen muss, um ihn ein für alle Mal zur Strecke zu bringen. Dass ich sein Motiv nicht kenne, könnte bedeuten, dass ich es nicht schaffe.
Ich meine, soll ich auf das erste Chakra oder Wurzel-chakra - wie man es gelegentlich nennt - zielen, das Zentrum für Wut, Gewalt und Gier? Oder vielleicht aufs Nabel-chakra oder Sakralzentrum, wo Missgunst und Eifersucht wohnen? Aber ohne zu wissen, was Roman antreibt, wäre es viel zu
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