Der blaue Mond
Blick an.
»Und außerdem - kannst du dir auch nur ansatzweise vorstellen, wie sehr ich mich darauf freue, wieder mit meiner Familie zusammen zu sein?«
Sie streckt die Arme nach mir aus und drückt mich fest an sich. »Ich freue mich ja so für dich«, flüstert sie. »Ganz ehrlich. Und obwohl ich dich vermissen werde, fühle ich mich geehrt, dass du mir zutraust, alles Weitere zu erledigen.«
»Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll«, murmele ich, wobei sich meine Kehle wie zugeschnürt anfühlt.
Doch sie streicht mir nur mit der Hand übers Haar und sagt: »Glaub mir, du hast dich schon bedankt.«
Ich mache mich los und sehe mich um, sauge diese herrliche Nacht in dieser charmanten Stadt am Meer in mich auf und kann es kaum glauben, dass ich das alles aufgeben werde. Dass ich Sabine, Miles, Haven, Ava und Damen ebenso den Rücken kehren werde wie allem anderen hier, als hätte es nie existiert.
»Alles in Ordnung?«, fragt sie mit sanfter, weicher Stimme, während sie meine Miene studiert.
Ich nicke, räuspere mich und zeige auf die kleine violette Papiertüte zu ihren Füßen, auf der in Goldbuchstaben der Name des Ladens aufgedruckt ist: MYSTICS & MOON-BEAMS. »Bist du sicher, dass du genau weißt, wie du mit den Kräutern umgehen musst? Du musst sie kühl und dunkel lagern und darfst sie erst am allerletzten Tag - dem dritten Tag - zerkleinern und in das ... das rote Getränk geben.«
»Keine Sorge.« Sie lacht. »Was nicht hier drin ist« - sie hebt die Tüte hoch und drückt sie sich an die Brust -, »ist hier drin.« Sie zeigt auf ihre Schläfe und schmunzelt.
Ich nicke und ringe mit den Tränen, doch ich weigere mich zu weinen, da dies erst der Beginn einer Reihe von Abschieden ist. »Ich komme morgen bei dir vorbei und bringe den Rest«, sage ich. »Nur für den Fall, dass du die Sachen doch noch brauchst, was ich aber eigentlich nicht glaube.« Ich setze mich in mein Auto, lasse den Motor an und fahre davon. Ohne zum Abschied zu winken, ohne mich auch nur ein einziges Mal umzudrehen, fahre ich die Ocean Avenue hinab. Jetzt habe ich keine andere Wahl mehr, jetzt kann ich nur noch in die Zukunft blicken und mich darauf konzentrieren.
Nachdem ich die restlichen Sachen besorgt habe, schleppe ich die Tüten in mein Zimmer hinauf und kippe alles auf den Schreibtisch. Ungeduldig wühle ich mich durch Öle, Kräuter und Kerzen, begierig, an die Kristalle zu kommen, da die am meisten Arbeit erfordern werden. Sie alle müssen ihrer Art entsprechend in Schwingung versetzt werden, ehe sie in das bestickte Seidentäschchen gesteckt und hinausgelegt werden, um so viel Mondlicht wie möglich aufzusaugen. Inzwischen manifestiere ich Mörser und Stößel (weil ich das im Laden vergessen habe, aber da es nur ein Werkzeug und keine eigentliche Zutat ist, müsste es okay sein, die Sachen einfach zu manifestieren), damit ich einige der Kräuter pulverisieren und sie alle in (ebenso manifestierten) Bechern zum Kochen bringen kann, ehe ich all die Eisenerze, Mineralien und bunten Pulver dazugebe, die Lina in kleine Gläschen gefüllt und sorgfältig etikettiert hat. All das muss in sieben präzisen Schritten vollführt werden, beginnend mit dem Klingen der Kristallschale, die extra so gestimmt ist, dass sie auf dem siebten Chakra vibriert, damit sie Inspiration, Wahrnehmung über Raum und Zeit hinaus und eine ganze Menge anderer Dinge ermöglicht, die eine Verbindung zum Göttlichen herstellen. Beim Betrachten des Haufens von Zutaten, der sich vor mir auftürmt, steigt eine kleine Welle der Vorfreude in mir auf, weil ich weiß, dass jetzt, nach etlichen Fehlstarts, alles wieder ins Lot kommt.
Wenn ich sage, dass ich Angst hatte, ob ich alles an einem Ort finde, ist das weit untertrieben. Es standen so merkwürdige und unterschiedliche Dinge auf der Liste, dass ich mir nicht einmal sicher war, ob es das alles gibt, und so habe ich mich schon scheitern sehen, ehe ich überhaupt angefangen habe. Aber Ava hat mir nicht nur garantiert, dass Lina alles besorgen werde, sondern ich ihr auch vertrauen könne. Und obwohl ich mir hinsichtlich des letzten Teils noch immer nicht so sicher bin, hätte ich ja gar nicht gewusst, an wen ich mich sonst wenden sollte.
Doch mit der Zeit machte es mich nervös, wie Lina mich immer wieder von der Seite ansah und mich aus schmalen Augen fixierte, während sie die Pulver und Kräuter zusammensuchte. Als sie die Skizze in die Höhe hielt, die ich angefertigt hatte, und fragte:
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