Der blaue Mond
»Was hast du eigentlich vor? Ist das eine Art Alchemie?«, war ich sicher, dass ich einen Riesenfehler gemacht hatte.
Ava wollte schon einschreiten, als ich den Kopf schüttelte und mir ein Lachen abrang. »Na ja«, sagte ich, »wenn Sie Alchemie im ursprünglichsten Sinn meinen, also die Natur beherrschen, Chaos abwenden und das Leben auf unbestimmte Zeit hinaus verlängern« - eine Definition, die ich kurz zuvor auswendig gelernt hatte, als ich den Begriff nachgeschlagen hatte -, »dann nein, so große Pläne habe ich nicht. Ich probiere nur ein bisschen weiße Magie aus - um einen Zauber auszuüben, der mir bei den Prüfungen hilft, mir ein Date für den Abschlussball verschafft und vielleicht sogar meine Allergien kuriert, die jetzt ausbrechen werden, weil schon fast Frühling ist. Ich will ja nicht, dass meine Nase auf den Fotos vom Abschlussball knallrot ist und tropft, wissen Sie?«
Als ich gemerkt habe, dass ich sie nicht überzeugen konnte, vor allem in Bezug auf die Allergien, habe ich noch hinzugefügt: »Deshalb brauche ich auch den vielen Rosenquarz, da der ja Liebe bringen soll, ach, und dann noch den Türkis.« Ich zeigte auf ihren Anhänger. »Sie wissen ja, dass er für seine Heilkraft bekannt ist, und ...« Und obwohl ich noch stundenlang weiterreden und die Liste mit all den Dingen, die ich erst eine Stunde zuvor auswendig gelernt hatte, hätte herunterbeten können, habe ich an der Stelle Schluss gemacht und nur mit der Schulter gezuckt.
Nun packe ich die Steine aus, wiege jeden einzelnen von ihnen vorsichtig auf meiner Handfläche und stelle mir ein strahlendes weißes Licht vor, das sie bis ins Innerste durchdringt. So vollführe ich den unheimlich wichtigen Schritt des »Reinigens und Läuterns«, welcher Informationen aus dem Internet zufolge der erste Schritt ist. Der zweite besteht darin, sie (laut!) darum zu bitten, die mächtige Energie des Mondes aufzusaugen, damit sie die Aufgabe erfüllen können, für die die Natur sie vorgesehen hat.
»Türkis«, flüstere ich und sehe zur Tür, um mich zu vergewissern, dass sie fest verschlossen ist, während ich mir ausmale, wie peinlich es wäre, wenn Sabine hereinplatzen und mich dabei erwischen würde, wie ich eine Hand voll Steine bespreche. »Ich bitte dich zu heilen, zu reinigen und zu helfen, die Chakren auszubalancieren, wie es dir die Natur aufgetragen hat.« Dann hole ich tief Luft und durchdringe den Stein mit der Energie meiner Absichten, ehe ich ihn in die Tasche schiebe und nach dem nächsten greife. Ich komme mir albern und mehr als ein bisschen verlogen vor, aber ich weiß, dass mir nichts anderes übrig bleibt als fortzufahren.
Ich mache mit den geschliffenen Rosenquarzen weiter, indem ich jeden einzeln aufhebe und mit weißem Licht tränke, ehe ich viermal wiederhole: »Mögest du bedingungslose Liebe und unendlichen Frieden bringen.« Ich lasse sie nacheinander in das rote Seidentäschchen fallen und sehe zu, wie sie sich um den Türkis gruppieren, ehe ich nach dem Staurolithen greife - einem schönen Stein, der angeblich aus Elfentränen entstanden sein soll. Ich bitte ihn, mir alte Weisheit und Glück zu schenken und mir zu helfen, Verbindung zu den anderen Dimensionen herzustellen. Dann hole ich den großen Zoisiten heraus und nehme ihn in beide Hände. Nachdem ich ihn mit weißem Licht gereinigt habe, schließe ich die Augen und flüstere: »Mögest du alle negativen Energien in positive verwandeln, mögest du dabei helfen, eine Verbindung zu den mystischen Reichen herzustellen, und mögest du ...«
»Ever? Kann ich reinkommen?«
Ich sehe zur Tür und weiß, dass mich bloß dreieinhalb Zentimeter Holz von Sabine trennen. Ich schaue auf das Sammelsurium aus Kräutern, Ölen, Kerzen und Pulvern und auf den Stein in meiner Hand, den ich gerade bespreche.
»Und bitte hilf bei der Genesung von Krankheiten und was sonst noch in deiner Macht steht!«, flüstere ich und schiebe ihn in das Täschchen, kaum dass ich zu Ende gesprochen habe.
Nur, dass er nicht hineinpasst.
»Ever?«
Ich versetze ihm erneut einen Stoß und versuche, ihn mit Gewalt hineinzuquetschen, doch die Öffnung ist so klein und der Stein so groß, dass ich das nicht schaffen werde, ohne die Nähte aufzureißen.
Sabine klopft erneut, dreimal schnell hintereinander, womit sie mir signalisiert, dass sie weiß, dass ich da bin, weiß, dass ich etwas im Schilde führe und dass ihr langsam die Geduld ausgeht. Und obwohl ich keine Zeit zum Plaudern habe,
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