Der blaue Mond
nicht.
Ava nickt mir zu und signalisiert mir, dass ich jetzt dran bin. Also räuspere ich mich und ramme die Hand in die Tasche meiner jüngst manifestierten Jeans, deren Beine zum Glück noch bis zum Boden reichen. Ich ziehe den zerknüllten Zettel heraus und sage: »Ich, ähm , ich brauche ein paar Sachen.« Unwillkürlich zucke ich zusammen, als Lina ihn mir aus der Hand reißt und ihn durchliest. Sie hebt eine Braue, schnaubt irgendetwas Unverständliches und mustert mich noch einmal genauer.
Und gerade als es so aussieht, als wollte sie mich abweisen, drückt sie mir die Liste unsanft wieder in die Hand, schließt die Tür auf und winkt uns beide in einen Raum, den ich so nicht erwartet hätte.
Ich meine, als mir Ava gesagt hat, dass dies der Ort sei, wo es das gäbe, was ich brauche, war ich mehr als nervös. Ich war sicher, man würde mich in einen gruseligen, verborgenen Keller stoßen, der voll ist von befremdlichen und Furcht einflößenden rituellen Gegenständen wie Fläschchen mit Katzenblut, abgetrennten Fledermausflügeln, Schrumpfköpfen, Voodoopuppen - Sachen, wie man sie im Kino oder im Fernsehen zu sehen kriegt. Aber dieser Raum ist ganz anders. Ja, er sieht sogar mehr oder weniger wie ein ganz normaler, mehr oder weniger gut aufgeräumter Vorratsschrank aus. Na ja, abgesehen von den leuchtend violetten Wänden, an denen handgeschnitzte Totems und Masken hängen. Ach, und die gemalten Göttinnenbilder, die an den überfüllten Regalen lehnen, deren Bretter sich unter schweren Folianten und steinernen Gottheiten biegen. Doch der Aktenschrank ist ein ganz normales Modell. Als sie einen Schrank aufschließt und darin herumkramt, spähe ich über ihre Schulter, doch ich sehe rein gar nichts, bis sie mir einen Stein reicht, der in jeder Hinsicht falsch wirkt.
»Mondstein«, sagt sie, als sie meine Verwirrung bemerkt.
Ich starre den Stein an und weiß instinktiv, dass er nicht so aussieht, wie er sollte, und auch wenn ich es nicht erklären kann, irgendetwas stimmt daran nicht. Um sie nicht zu beleidigen, da sie mich garantiert ohne Zögern hinauswerfen würde, schlucke ich schwer, nehme all meinen Mut zusammen und sage: »Ähm, ich brauche aber einen, der roh und ungeschliffen ist und noch seine absolut ursprüngliche Form hat - der hier kommt mir für meine Bedürfnisse ein bisschen zu glatt und glänzend vor.«
Sie nickt kaum wahrnehmbar, aber eben doch ein bisschen, dann verzieht sie die Lippen, ehe sie den Stein hervorholt, um den ich sie gebeten habe.
»Das ist er«, sage ich in dem Wissen, dass ich ihre Prüfung bestanden habe. Vor mir liegt ein Mondstein, der nicht annähernd so schön glänzt wie der andere, der jedoch hoffentlich das bewirken wird, was er soll, nämlich neue Anfänge begünstigen. »Und dann brauche ich eine Schale aus Quarzkristall, die auf das siebte Chakra eingestimmt ist, ein von tibetischen Mönchen besticktes rotes Seidentäschchen, vier geschliffene Rosenquarze, einen kleinen Stern - nein, einen Staurolithen? Spricht man das so aus?« Ich schaue gerade rechtzeitig auf, um sie nicken zu sehen. »Ach, und dann noch den größten ungeschliffenen Zoisiten, den Sie haben.«
Als Lina mit in die Hüften gestemmten Händen stehen bleibt, ist mir klar, dass sie sich fragt, wie all diese scheinbar willkürlich ausgewählten Gegenstände zusammenpassen sollen.
»Ach, und ein Stück Türkis, etwa in der Größe wie der, den Sie tragen«, sage ich und zeige auf ihren Hals.
Sie mustert mich und nickt mir äußerst knapp zu, ehe sie sich umdreht und die Steine herauszusuchen beginnt. Sie wickelt sie so beiläufig ein, dass man glauben könnte, sie würde im Naturkosdaden Lebensmittel einpacken.
»Ach, und hier ist eine Liste mit Kräutern«, sage ich, fasse in die andere Tasche und ziehe einen zerdrückten Zettel heraus, den ich ihr reiche. »Am liebsten welche, die während eines Neumonds gepflanzt und von blinden Nonnen in Indien gepflegt worden sind«, füge ich hinzu und staune, als sie mir einfach die Liste abnimmt und, ohne mit der Wimper zu zucken, abermals nickt.
»Darf ich fragen, wofür das ist?«, sagt sie, ohne den Blick von mir zu wenden.
Doch ich schüttele nur den Kopf. Ich konnte es Ava schon kaum sagen, und mit der bin ich befreundet. Also kommt es nie und nimmer infrage, dass ich es dieser Frau erzähle, ganz egal, wie großmütterlich sie auch wirken mag.
»Ähm, das würde ich lieber für mich behalten«, sage ich, in der Hoffnung, dass sie das
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