Der blaue Mond
bleibt mir nichts anderes übrig, als »Ähm, einen Moment bitte!« zu rufen. Ich ramme den Stein in das Täschchen, laufe auf den Balkon und lege es auf einen kleinen Tisch, der direkt vom Mond beschienen wird, ehe ich wieder hineinstürme und fast einen Nervenzusammenbruch kriege, als Sabine schon wieder klopft. Ich sehe, in welchem Zustand mein Zimmer ist - betrachte es mit ihren Augen und weiß, dass die Zeit nicht reicht, um etwas daran zu ändern.
»Ever? Alles in Ordnung?«, ruft sie, in ebenso verärgertem wie besorgtem Tonfall.
»Ja, ich habe nur gerade ...« Ich packe mein T-Shirt am Saum, zerre es mir über den Kopf und rufe mit dem Rücken zur Tür: »Ähm, du kannst jetzt reinkommen ... Ich wollte nur gerade ...« Und genau in dem Moment, als sie hereinkommt, ziehe ich es wieder an und tue so, als wäre ich plötzlich schamhaft geworden und fände es unangenehm, mich vor ihr umzuziehen, obwohl es mir bisher nie etwas ausgemacht hat. »Ich ... Ich habe mich nur gerade umgezogen«, murmele ich, während sie mich mit zusammengekniffenen Brauen mustert und nach Geruchsspuren von Marihuana, Alkohol und Nelkenzigaretten sucht oder wovor ihr neuester Erziehungsratgeber für Teenager sie sonst gewarnt haben mag.
»Du hast etwas auf dem ...« Sie zeigt auf die Vorderseite meines T-Shirts. »Etwas Rotes, das - na ja -, das wahrscheinlich nicht mehr rausgehen wird.«
Sie verzieht den Mund, während ich auf mein T-Shirt herabblicke, auf dem ein breiter roter Streifen zu sehen ist, der eindeutig von dem Pulver herrührt, das ich für das Elixier brauche. Die Tüte, in der es drin ist, muss einen Riss haben, denn nun sehe ich, dass auch mein Schreibtisch und der Fußboden darunter etwas davon abbekommen haben.
Toll. Und da tust du so, als hättest du gerade ein frisches T-Shirt angezogen!, denke ich, während Sabine auf mein Bett zugeht, sich mit dem Mobiltelefon in der Hand auf die Kante setzt und die Beine übereinanderschlägt. Ich brauche nur einen Blick auf den verschwommenen rötlichen Schimmer ihrer Aura zu werfen, um zu wissen, dass ihr besorgter Blick weniger mit meinem scheinbaren Mangel an sauberen Klamotten zu tun hat als mit mir persönlich - meinem seltsamen Benehmen, meiner zunehmenden Heimlichtuerei und meinen Essgewohnheiten, was alles zusammengenommen in ihren Augen zwangsläufig zu nichts Gutem führen kann.
Ich bin so darauf fixiert, wie ich ihr all das erklären soll, dass ich völlig überrumpelt bin, als sie fragt: »Ever, hast du heute die Schule geschwänzt?«
Ich erstarre, während sie meinen Schreibtisch mustert und das Durcheinander aus Kräutern, Kerzen, Olen und Mineralien und allem möglichen anderen sonderbaren Zeug betrachtet, das sie nicht kennt - oder zumindest nicht in dieser Zusammenstellung -, als erfüllten die Sachen einen Zweck, als wäre die Anordnung weit weniger zufällig, als sie scheint.
»Ähm, ja. Ich hatte Kopfschmerzen. Aber es ist nicht so schlimm.« Ich lasse mich auf meinen Schreibtischstuhl fallen und drehe mich hin und her, in der Hoffnung, sie von dem Anblick abzulenken.
Sie sieht zwischen dem großen alchemistischen Experiment und mir hin und her und will gerade etwas sagen, als ich ihr zuvorkomme. »Also, ich meine, jetzt ist es nicht mehr so schlimm, seit die Schmerzen weg sind. Aber glaub mir, vorher war es schlimm. Ich hatte mal wieder meine Migräne. Du weißt doch, dass ich die manchmal kriege?«
Ich komme mir vor wie die mieseste Nichte der Welt -eine undankbare Lügnerin und eine verschlagene Dummschwätzerin zugleich. Sie hat keine Ahnung, wie froh sie sein kann, dass sie mich bald los ist.
»Vielleicht liegt es daran, dass du nicht genug isst.« Sie seufzt, streift die Schuhe ab und mustert mich eingehend. »Aber trotzdem wächst du immer weiter wie Unkraut. Du bist schon wieder größer als vor ein paar Tagen!«
Ich sehe zu meinen Knöcheln hinab und stelle entsetzt fest, dass meine frisch manifestierte Jeans seit heute Morgen drei Zentimeter kürzer geworden ist.
»Warum bist du nicht zur Schulkrankenschwester gegangen, wenn du dich nicht wohl gefühlt hast? Du weißt doch, dass du nicht einfach so davonlaufen darfst.«
Ich sehe sie an und würde ihr am liebsten sagen, sie soll sich keinen Stress machen und keine Sekunde damit vergeuden, sich deswegen zu sorgen, da es ohnehin bald vorbei sein wird. Denn sosehr sie mir auch fehlen wird, ihr Leben wird auf jeden Fall besser werden. Sie hat etwas Besseres verdient als das. Etwas Besseres
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