Der blaue Vogel kehrt zurück
Bezirk De Baarsjes.
»Eine gute Gegend«, sage ich.
Der Taxifahrer sieht mich an, als wollte ich mich über ihn lustig machen.
»Bestimmt hat sich einiges verändert«, sage ich. »Bis jetzt habe ich erst eine Straße erkannt: die Zuider Amstellaan.«
»Die Rooseveltlaan, meinen Sie wohl.«
Wir fahren auf der Busspur zum Daniël Willinkplein.
»Victorieplein«, kommt der Fahrer mir zuvor. Es hat keinen Sinn, ihm zu erzählen, dass ich an früher denke; daran, wie es hier vor vielen Jahren aussah. Als der so genannte Wolkenkratzer das höchste Gebäude von Amsterdam war und die riesigen Linden zu unserer Linken noch dünne Stecken. Mich selbst kann ich in alte Zeiten zurückversetzen, aber der Taxifahrer hat da nichts zu suchen. Schweigend setzen wir unseren Weg durch die Van Woustraat fort.
Als wir uns zum Abbiegen rechts einordnen, spüre ich ein Stechen in der Brust. Ich möchte gern glauben, dass mein Herz wegen des Fahrstils des Taxifahrers zu schnell schlägt oder dass ich nervös bin, weil mein Ziel in greifbare Nähe rückt, doch insgeheim weiß ich, dass meine Unruhe einen anderen Grund hat.
Ich hole tief Luft, der Schmerz lässt nach, es ist vorbei, aber trotzdem: Einige Sekunden habe ich nichts gesehen, nichts gehört. Absolute Stille. Kein Licht, keine Finsternis. Erbarmungsloses Nichtsein.
Das Taxi hält auf dem Radweg vor dem Hotel. Der Fahrer steigt schwungvoll aus. Alles geschieht in einer einzigen fließenden Bewegung – wie er einen Bogen um einen schimpfenden Radfahrer beschreibt, den Kofferraum öffnet, am Griff des Rollkoffers zerrt. Er nimmt einen Fünfzigeuroschein entgegen, steigt wieder ein und braust davon.
Ich ziehe die alte, zerknitterte Postkarte des Hotels Linda aus der Innentasche. Das Gebäude ist größer als in meiner Vorstellung, und in Wirklichkeit sind die Backsteine rot. Ihr Name oder vielmehr der, den sie damals benutzt hat, hängt in Leuchtbuchstaben über dem Bürgersteig.
Ich verstehe nicht, wieso, aber zum ersten Mal seit Jahren muss ich an das Hotel Saurat denken. Dabei hatte das Haus in Espot, auf der spanischen Seite der Pyrenäen, keinerlei Ähnlichkeit mit diesem Hotel an der Stadhouderskade. Dort kam ich nach der langen, beschwerlichen Wanderung über die Berge zum ersten Mal seit meinem Aufbruch aus Amsterdam zur Ruhe und nahm mir die Zeit, meine Erinnerungen an Linda zu ordnen.
Ich schleife meinen Koffer die fünf Stufen hinauf und weiter zur Rezeption. Hinter dem Tresen sitzt eine junge Frau, die aufschaut, als ich mich räuspere. Sie ist mein Gegenpart in einem Theaterstück, das ich nicht gut einstudiert habe.
»Ich …«
Sie nickt mir aufmunternd zu, scheint mir fast schon soufflieren zu wollen und entscheidet sich schließlich, mir vorzugreifen und ihren Part vorzutragen.
»Unter welchem Namen?«
Jacobson natürlich, das weiß ich doch, aber ich sage es nicht. Ich suche nach einem anderen Namen, einem, der eine Bedeutung hat.
»Linda.«
»Linda?«
»Wie das Hotel.«
»Hotel Linda, stimmt, das ist hier. Und Sie sind Meneer …?«
Ich hole tief Luft. Dabei fällt mir der Name ein. »Catharina.«
»Meneer Catharina?«
»Nein, Jacobson.«
Die Frau lächelt, legt den Kopf zur Seite und wartet. Ich schweige, weiß nicht weiter. Ich sehe mich da stehen: ein alter Mann, der den Faden verloren hat.
Sie tippt auf der Tastatur herum. »Ach, da sind Sie ja, Meneer Jacobson, von so weit weg, aus Belo Horizonte, Brasilien. Und Sie sprechen Niederländisch?«
»Ich bin Niederländer«, sage ich, vielleicht sogar zum ersten Mal im Leben in meiner Muttersprache. Ich bin ja auch erst ein Mal verreist und ein Mal, nämlich jetzt, zurückgekehrt.
»Für sieben Nächte, steht hier. Wir haben ein schönes Zimmer für Sie reserviert.« Sie beugt sich über den Tresen und fragt: »Ist das alles an Gepäck?«
Ich betrachte meinen Koffer. Blau, neu und spottbillig. Jetzt erst bemerke ich das kleine Schloss mit den zwei Schlüsseln am Reißverschluss.
Meine Kleidung hat Vicky ausgesucht. Weil sie davon ausging, dass es in Holland kalt sein würde, hat sie das Wärmste gewählt, was sie in meinem Schrank finden konnte.
Meine Kulturtasche habe ich eigenhändig gepackt: Rasierpinsel, Rasierseife, Messer, Medikamente, deren Namen ich mir nicht merken kann, einen Kamm, die Nagelschere, meine Zahnbürste und Zahnpasta.
Aus der obersten Schublade der Anrichte fischte ich im letzten Moment – fast hätte ich es vergessen – meinen Reisepass und den roten Umschlag
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