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Der blaue Vogel kehrt zurück

Der blaue Vogel kehrt zurück

Titel: Der blaue Vogel kehrt zurück Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arjan Visser
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was durcheinandergeraten ist, beherrscht mich. Es gelingt mir nicht, mich zu fassen, geschweige denn, zur Ruhe zu kommen.
    Ich setze mich auf und ziehe mein Hemd aus.
    Vielleicht kann ich ja Wasser lassen. Ach nein, das habe ich doch schon gemacht. Trotz des Biers nur unter großen Schwierigkeiten. Leg dich ruhig wieder hin, es kommen ohnehin bloß ein paar Tropfen raus.
    Ich ertaste den Schalter der Nachttischlampe. Als ich mich ans Licht gewöhnt habe, sehe ich auf meiner Armbanduhr, dass es zehn nach zwei ist.
    Nach einer Viertelstunde schaue ich noch einmal, und exakt eine Viertelstunde später erneut.
    Als ich aufwache, erinnere ich mich an diesen Traum: Ich liege bei Linda im Bett. Sie dreht sich auf die Seite, stützt sich mit der Hand ab und setzt sich auf. Das Laken rutscht herunter. Am liebsten würde ich sie am ganzen Körper küssen, doch ihr ernster Gesichtsausdruck hält mich davon ab.
    »Wir müssen uns etwas einfallen lassen«, sagt sie. So entschlossen und selbstsicher, wie es, das weiß ich heute, nur junge Leute sein können. Sie hat schon viele Menschen nach Englandgeschmuggelt. Ob ich bereits darüber nachgedacht hätte, was ich dort tun könnte? Vielleicht für die Royal Air Force fliegen? Hier mit dem Fallschirm abgesetzt werden, um Sachen ins Land zu bringen oder um Auskünfte zu beschaffen und weiterzuleiten? Dann würden wir uns vielleicht bald wiedersehen.
    Im Traum lächele ich über ihre Ernsthaftigkeit, ihre großen Worte, doch damals tat ich das nicht. In ihrem Bett schämte ich mich für den Verrat, den ich an ihr begehen würde. Ich wollte nicht nach England und erst recht nicht wollte ich in die Niederlande zurückkehren. Brasilien war mein Ziel. Ich musste zusehen, dass ich dort hinkam. Dort wollte ich bleiben.
    »Ja«, sagte ich, »so bald wie möglich.«
    Da entspannt sie sich wieder, ich sehe vor mir, wie ihre Wangen sich wölben, ihre Zähne sichtbar werden. Ich nehme ihr Gesicht in die Hände und beuge mich so dicht wie möglich zu ihr, damit sie meinen Blick nicht deuten kann.

8
    Im Frühstücksraum stehen sechsmal zwei kleine Tische nebeneinander, mit jeweils vier Stühlen daran. Das Frühstück wird als Büfett serviert: helles und dunkles Brot, verschiedene Sorten Brötchen, Cornflakes, Joghurt, Milch und Orangensaft. In einem großen Behälter wird Rührei über ein paar Teelichtern warm gehalten. Es gibt kleine Schälchen mit Margarine, Butter, Erdnussbutter, Nuss-Nougat-Creme, Honig und Marmelade. Auf einem flachen Teller liegt wie Dachziegel geschichteter Aufschnitt: Salami, Schinken, Hühnerbrustfilet und Käse. Kaffee und Tee kann man sich an einem Automaten holen.
    Der Kellner, ein dunkelhäutiger Junge, steht daneben, als wäre es seine Aufgabe, die Hotelgäste im Auge zu behalten.
    »Room number?«
    Mehr sagt er nicht.
    Ich nehme mir Weißbrot, eine Scheibe Käse und eine Tasse Tee und setze mich an einen Tisch in der mittleren Reihe, am Fenster. Zu meiner Linken schlingt ein Mann sein Brötchen hinunter, rechts von mir sitzt ein Ehepaar – alt zwar, aber nicht sehr alt, die Leute sind nur noch selten so alt wie ich – und blickt offenbar zufrieden dem nächsten Ereignis in seinem Leben entgegen. Das toupierte Haar der Ehefrau schimmert bläulich. Sie trägt eine Brille, deren geschwungene Bügel an der Unterseite der Gläser montiert sind. Der Mann sieht aus, als hätte er zu langein einem warmen Bad gelegen. Zusammen machen sie einen ganz munteren Eindruck, eine Wolke Seifenduft umweht ihre Köpfe, ihre Füße stecken in robusten Wanderschuhen. Als sie meinen Blick bemerken, sagt die Frau in feierlichem Ton: »We have been married for fifty years.«
    Ihr Mann fügt hinzu, sie kämen aus Dänemark.
    Ich gratuliere beiden herzlich.
    Sie berichtet von ihren zahlreichen Ausflügen. Er begleitet ihre Worte mit zustimmendem Murmeln. Jede Sehenswürdigkeit scheint mit einem Vorzug und einem Nachteil behaftet zu sein. Ich habe keine Ahnung, wo der »wonderful flower market« liegt, doch der Dänin zufolge brauche ich ihn gar nicht erst zu suchen, weil es dort viel zu voll sei. Das Anne-Frank-Haus sei »very impressive«, doch sie hätten ein paar Stunden anstehen müssen, bevor sie hineingekommen seien. Bei dieser Erinnerung entfährt dem Mann ein tiefer Seufzer.
    »And yesterday«, fährt die Frau fort, »we went to see the Asscher Diamond factory. It is a very nice building, but you cannot go inside to see the people at work. Have you been there?«
    »Many times«,

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