Der blaue Vogel kehrt zurück
ein ganzes Büschel frisch gepflückter Tabakblätter. Ich hatte das Gefühl, als befände sich Vicky, von der mich kaum ein Kilometer trennte, bereits mehrere Tagesreisen entfernt.
Die Fahrt mit dem Taxi zum internationalen Flughafen in Confins dauerte nur eine Stunde. Dieses eine Mal hätte sich der Fahrer ruhig in den Vororten von Belo Horizonte verfahren dürfen; wäre ich zu spät gekommen, hätte ich mich erleichtert wieder nach Hause bringen lassen können.
Willkommen zurück. Umarmung vermeiden. Koffer auspacken. Weißt du noch, was ich dir von Holland erzählt habe, Vicky? Von den Menschen und den Dingen dort? Das ist allesGeschichte; lassen wir sie lieber ruhen. Die Andenken, die ich dir mitbringen wollte: Aus den Tulpenzwiebeln wäre hier doch nie was geworden, das darfst du mir glauben. Und was könntest du schon mit einer Windmühle aus Delfter Porzellan anfangen? Gar nichts. Die Mühlräder drehen sich nicht mal.
Ich hätte unseren geordneten Alltag nicht stören dürfen.
Nicht wegen eines toten Mannes. Nicht wegen seiner Beerdigung. Ich würde ohnehin zu spät kommen.
Du solltest recht behalten.
3
Mein Cousin Seno und ich hatten uns nur wenige Jahre regelmäßig gesehen. Wir waren die beiden einzigen Kinder in der Familie. Auf Feiern mussten wir uns miteinander vergnügen. Selbst Komplimente zu unserer Größe oder unserer Stärke mussten wir uns teilen, obwohl ich eindeutig größer und stärker war als er.
Meine Mutter behandelte meinen Altersgenossen, das einzige Kind ihres Bruders, als wäre er aus mundgeblasenem Glas, und er spielte ihre Fürsorge gegen mich aus. Sobald ich ihm drohte, mir etwas zurückzuholen, was er mir weggenommen hatte, brach Seno in Tränen aus, zeigte mit dem Finger auf mich und rief seine Tante Hannah zu Hilfe. Als Jugendlicher hätte ich – wenn ich gewollt hätte – außerhalb des Dunstkreises der elterlichen Autorität etwas rauer mit ihm umspringen können, doch er bandelte mit einer Goi an und wir verkehrten nicht mehr in denselben Kreisen.
Zum letzten Mal sah ich ihn im Jahr 1939 beim Begräbnis seiner Mutter, meiner ständig kranken Tante Vögelchen. Ich wollte ihn trösten, aber er hatte kein Bedürfnis danach. Lieber erzählte er mir von Christine, mit der er Tennis spielte und den Tanzkurs besuchte. Sie wollten sich bald verloben.
»Und du? Nichts als Boxen im Sinn, oder?«
Er versuchte, mich in den Arm zu kneifen. Ich ließ ihn machen.
»Mädchen?«
»Mehr als genug.«
Als mein Onkel Louis irgendwann 1941 untertauchte, war sein Sohn Seno bereits eine ganze Weile verschwunden. Verreist, hieß es damals.
Ich sprach nach dem Krieg mit ihm. Da war ich schon einige Zeit in Brasilien. Nana hatte mich gedrängt, mit meiner Familie Kontakt aufzunehmen. Sie konnte nicht verstehen, dass ich das immer wieder aufschob.
»Willst du denn gar nicht wissen, was aus deinem Vater …«
»Stiefvater!«
»… und deiner Mutter geworden ist? Du musst …«
Sie konnte gar nicht damit aufhören.
Aber ich wollte nichts sagen und nichts hören. Wenn ich schwieg, stand alles still. Solange mir niemand erzählte, dass Mutter und Landau ermordet worden waren, konnte ich so tun, als wären sie noch am Leben.
Nach einer Weile fing Nana an, sich über meine Untätigkeit zu ärgern. »Gibt es denn niemanden, der …«
»Mein Cousin Seno, vielleicht.«
Falls jemand diese Jahre überlebt hatte, dann er: Seno Aardenwerk, der Vorsichtige.
»Nun mach schon«, sagte sie, »dann weißt du es.«
Im Dezember 1946 ging ich zum Postamt von Serro, wo ein Telefonist die Verbindung mit Amsterdam, Holland, aufbaute.
Es war kaum vorstellbar, dass Seno am anderen Ende der Leitung abnehmen würde. In Gedanken stellte ich ihn in den Flur der elterlichen Wohnung in der Van Breestraat. Dorthin, wo neben dem Garderobenständer das Telefon an der Wand hing.
Ich lauschte dem kurzen, dringlichen Läuten, das ihn veranlassen würde, den Hörer von der Gabel zu nehmen.
Komm, versuchte ich mir Mut zu machen, wie groß ist schon die Wahrscheinlichkeit, dass er tatsächlich in der Wohnung ist? Zu meinem Schrecken wurde ich so schnell durchgestellt, als hätte er nur auf meinen Anruf gewartet.
Seno hatte vier Jahre in Kellern und auf Dachböden verbracht und war nach der Befreiung einfach mit der Straßenbahn nach Hause gefahren. Die Wohnung sei leer geräumt und mit Brettern vernagelt gewesen. Nach und nach habe er sich eingerichtet. Mit Trödel. Zusammengeflicktem Zeug. Seine Stimme klang
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