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Der blaue Vogel kehrt zurück

Der blaue Vogel kehrt zurück

Titel: Der blaue Vogel kehrt zurück Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arjan Visser
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ein altes Weib im Blumenbeet zusammengebrochen.«
    Nach dem Tod von Augusto de Farias setzte ich dem Verfall meines Lebens in Milho Verde keinen Widerstand mehr entgegen. Das Haus durfte verkommen, zusammen mit mir. Als der Chevy seinen Geist aufgab, sah ich tatenlos zu, wie der Wagen langsam von Rost zerfressen wurde und eine grüne Schlange, die sich einenWeg durchs Leder der Rückbank genagt hatte, ein Nest zwischen den Stahlfedern und dem Pferdehaar baute.
    Ich stellte mir vor, dass mein ganzer Besitz eines Tages von der Natur zurückerobert und verschlungen werden würde. Erst waren die Menschen einer nach dem anderen von mir gegangen, jetzt waren die Orte, an denen ich zusammen mit ihnen gelebt hatte, an der Reihe. Das war kein düsterer Gedanke, eher eine klare Erkenntnis. So etwas wie meine persönliche Vergangenheit gab es nicht; ich wirbelte einfach nur mit im Strudel von Leben und Tod. Das war keine Frage des Widerstands, hatte auch nichts mit Ergebung zu tun. Alles geschah wie von selbst.
    Als ich schließlich von der Unvermeidlichkeit der Dinge durchdrungen war, beschloss ich, die Zeit, die mir hier noch blieb, möglichst angenehm zu gestalten und wieder ein bisschen in Schwung zu kommen.
    Zum Schrecken meiner steifen Gelenke nahm ich eines Nachmittags ein Hobby meiner Jugend wieder auf. Ich begann mit einer Runde durchs Dorf, doch nach wenigen Monaten lief ich bereits bis Três Barras und – nach einer halbstündigen Pause – zurück nach Hause.
    »Azulão!«, rief mir der Nachbar einmal hinterher, als er mich an seinem Haus vorbeitraben sah. »Denk an dein Alter!«
    »Du auch!«, gab ich schlicht zurück. Männer in meinem Alter taten gewöhnlich nicht viel mehr, als untätig herumzusitzen und über alle und jeden zu lästern, die im Gegensatz zu ihnen noch in Bewegung waren.
    An einen Balken der Veranda hängte ich einen mit alten Decken gefüllten Seesack, auf den ich jeden Morgen eine halbe Stunde lang kräftig eindrosch.
    Ich lief mich fit, schlug mich in Form. Abends machte ich schöne Lagerfeuer im Garten und ließ meinen Gedanken freienLauf. In jenen Tagen tauchten die Geister meiner Vergangenheit wieder auf, nicht länger daran gehindert von Nana, Augusto und all den anderen Brasilianern, die meine Aufmerksamkeit in Anspruch genommen hatten. Das Wiedersehen war alles andere als unerfreulich, allerdings wurden meine Nächte durch die heraufbeschworenen Erinnerungen kürzer.
    Als mein Geld zur Neige ging, war ich bereit für den nächsten Schritt. Ich verkaufte das Haus und das Land. Von dem Erlös konnte ich eine kleine Wohnung in Belo Horizonte erwerben.
    Im September zog ich um. Bei der Abfahrt aus Milho Verde sah ich durchs hintere Busfenster den Regen wie einen Bühnenvorhang niedergehen.
    In Belo Horizonte fand ich eine junge Frau, Vicky, die im Tausch gegen ein bisschen Hilfe im Haushalt bei mir einziehen wollte.
    »Aber nur vorübergehend«, sagte sie. Vicky gab vor, heiraten zu wollen, doch schließlich lebten wir so einige Jahre wie Vater und Tochter in der Wohnung in der Rua Paraibuna, und es sah nicht danach aus, als würde sie mich je allein lassen. Der Gedanke, dass ich weggehen könnte, und sei es nur für kurze Zeit, war ihr nie gekommen.
    »Bleiben Sie in Bewegung, alter Mann.«
    Sie schob mich durch unsere Wohnung.
    Sie spannte mit zwei Fingern die Haut an meinem Hals straff und zog mit einem Rasiermesser Bahnen durch den Schaum.
    Sie friemelte die Manschettenknöpfe in die Ärmel meines Hemdes, die Zungenspitze zwischen den Lippen.
    Sie überredete mich, etwas zu essen, als wäre ich ein kleiner Junge.
    »Nehmen Sie ein pão de queijo . Sie mögen doch Käsebrot?Kommen Sie, nehmen Sie schon. Sie müssen was essen. Im Flugzeug geben sie einem nur merda .«
    Während das Taxi draußen wartete, ging sie noch einmal die Liste mit mir durch.
    »Reisepass?«
    »Natürlich.«
    »Medikamente?«
    »Ja.«
    »Geld?«
    »Vier von diesen merkwürdigen Fünfzigern – fürs Erste dürfte das reichen.«
    Ein Kuss auf meine kühle alte Wange. Noch einer. Und ein letzter.
    Ich ging vergnügt los, doch auf dem Weg zum Flughafen packte mich die Schwermut; die Farben waren intensiver, die Stadt lebendiger und ihre Bewohner präsenter denn je. Die Hupe, die der Taxifahrer bei jeder Gelegenheit betätigte, klang wie ein Schiffshorn. Die Härchen in seinem Nacken verwandelten sich in gemeine Stacheldrahtspitzen. Die Spitze seiner Zigarette glühte höllisch, und der Rauch, den er ausblies, roch wie

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