Der blaue Vogel kehrt zurück
darum, dass man ein Zimmer für Sie bereit macht.«
»Vielen Dank.«
Nach seiner Zusage werde ich unruhig; am liebsten würde ich sofort aufbrechen. Noch ein paar Kleinigkeiten erledigen und dann gehen.
Vicky soll erfahren, dass sie sich nicht getäuscht hat. Tatsächlich hat sie sich ja bereits von mir verabschiedet; es wäre beinahe gruselig, es ihr selbst zu sagen. Vielleicht kann Sonja mir ja helfen. Ich weiß nicht, ob sie sich verständigen können, aber für so eine Mitteilung braucht es nicht viele Worte. Zur Not sage ich es ihr vor: »Azulão está morto.«
55
Sonja kommt und sagt: »Hier liegen Sie sehr viel besser.«
Ich möchte sehen, was sie damit meint, aber ich kann den Kopf nicht heben.
»Ein ganzes Zimmer für Sie allein.«
Bin ich denn schon da?
»Würdest du mir einen Gefallen tun?«
»Natürlich.«
»Kannst du Vicky anrufen?« Als sie diesen Namen hört, wird Sonja rot. Sie habe bereits mit Vicky gesprochen, sagt sie. »Ich wollte es Ihnen noch erzählen. An dem Tag, nachdem Sie ins Krankenhaus gekommen sind. Ich hatte Ihre Sachen aus dem Hotel abgeholt, erinnern Sie sich noch? Sie hatten von Nana gesprochen, Ihrer Frau und …«
»Diesen Sommer ist es zwanzig Jahre her«, sage ich.
»Sie, ich … Ich konnte ihren Namen nicht in Ihrem Adressbuch finden. Deswegen habe ich bei Ihnen zu Hause angerufen, und da meldete sich Vicky. Wenn ich das richtig verstanden habe, ist sie Ihre Haushaltshilfe?«
Ich sehne mich so danach, Nana zu sehen, aber stattdessen sehe ich Vicky durchs Zimmer spazieren und mit ihrem Staubtuch hier und da hinwedeln. »Ja, so in etwa. Sie wohnt bei mir. Was hast du ihr gesagt?«
»Dass Sie im Krankenhaus liegen.«
»Gut. Denkst du daran, sie dann anzurufen?«
Sonja möchte etwas sagen, aber ich komme ihr zuvor.
»Das ist das eine. Und dann wäre da noch was. In meinem Koffer ist eine Schachtel mit Ohrringen. Die sind für dich.«
Ich weiß nicht, wann ich auf diese Idee gekommen bin, wahrscheinlich bei meinem Umzug in dieses Zimmer, aber es erscheint mir ganz selbstverständlich, ihr den Schmuck zu schenken. Und wie im Traum höre ich mich sie darum bitten, die Ohrringe zu tragen, wenn sie ihre Oma besucht. »Würdest du mir diesen Gefallen tun?«
Sonja stellt keine Fragen. Sie sagt nur feierlich ja.
»Und jetzt bin ich fertig. Das war mein Widduj.«
Sie wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel, und als sie sich wieder gefangen hat, fragt sie etwas zu laut: »Ein Widduj? Was ist denn das schon wieder?«
»Ein Sündenbekenntnis.«
»Aha, eine Beichte?«
»Ja, so etwas Ähnliches. Landau hat mir das alles erklärt.«
»Wer ist Landau?«
»Der zweite Mann meiner Mutter. Er war gläubig, viel gläubiger als mein Vater. Als Landau hörte, dass wir nicht sieben Tage auf dem Boden gesessen hätten, um den Tod meines Vaters zu betrauern, war er ganz unglücklich. Nicht weil wir es meinem Vater vorenthalten hatten, nehme ich an, sondern weil das so respektlos war. Warum ich, als guter Sohn, nicht ein Jahr lang um meinen Vater getrauert hätte? Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Meine Mutter sagte, es hätte überhaupt keinen Grund zur Trauer gegeben.«
»Wann ist Ihr Vater gestorben?«
»Ich weiß nicht genau. Es war kalt. Der Mann, der uns die Nachricht überbrachte, hat seinen Mantel angelassen.«
»Woran ist er gestorben?«
»An einer Kohlenmonoxidvergiftung. Mein Vater ist im Bett gestorben. Zusammen mit seiner Geliebten, aber das wusste ich damals natürlich nicht. Mama wurde wütend wegen Landaus Belehrungen über die Rituale. Die waren zwar für mich gedacht, aber sie hörte mit halbem Ohr zu. Weißt du, worüber sich mein Stiefvater auch geärgert hätte?«
»Worüber denn?«
»Dass du meine Hand hältst.«
»Ist das etwa unsittlich?«
»Nein, nein, aber ich bin jetzt ein Goses. Ein Sterbender.«
»Sagen Sie so was nicht!«
»Aber es stimmt. Ich werde bald sterben. Das macht nichts. Deshalb ist es gut, dass du mich dazu gebracht hast, das Widduj zu sagen. Aber egal, jedenfalls darf man Sterbende nicht berühren. Ich bin ziemlich geschwächt, das kannst du nicht leugnen; ein flackerndes Flämmchen. Wenn du mich anfasst, gehe ich aus. Das ist Landau zufolge mit dieser Vorschrift gemeint. Es hat nichts mit Reserviertheit zu tun, im Gegenteil, es ist der Versuch, jemanden länger in seiner Nähe zu behalten.«
Als meine Mutter ihn das sagen hörte, fragte sie Landau ungehalten, ob Sterbende einander denn berühren dürften. Ich weiß
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