Sokops Rache
Wecken um sechs – wie immer. Er ist schon wach – wie immer. Diesmal hat er gar nicht geschlafen. An der Tür das Rasseln und Klacken der Schlüssel.
»Sokop, mitkommen.« Der Abteilungsbeamte wartet neben der Tür. Henry wirft die Kippe in die Toilette, hängt die beiden Leinenbeutel über die Schultern, hebt den Karton mit den Aktenordnern hoch und nimmt den Koffer. Den Fernseher hat er dem Zellennachbarn überlassen.
Sein Herz flattert in der Brust, sein Puls rast. Es ist der erste Morgen, an dem er von der Zelle aus auf einen leeren Gang tritt. Sonst kommen alle zugleich heraus, nehmen ihr Frühstück vom Wagen des Hausarbeiters entgegen, werfen sich kurze, raue Bemerkungen zu. Er hat gestern, im Abschlussgespräch mit dem Anstaltsleiter, auf das heutige Frühstück verzichtet.
»Ich werde doch nichts runterkriegen«, hat er prophezeit und sein Gegenüber fast entschuldigend angelächelt. Der Händedruck, den die beiden Männer am Ende getauscht haben, wirkte so vertraut, als verabschiedeten sich alte Freunde voneinander. Manchmal hat Henry sich, um den Alltag hinter Gittern auszuhalten, vorgestellt, Justizangestellter zu sein, versucht, innerlich in die Rolle eines Psychologen, Arztes oder Schließers zu schlüpfen. Es ist ihm mal mehr, mal weniger gut gelungen.
Der Beamte – es ist der kurzatmige Schröder, der in seiner Freizeit Bass spielt – schließt die Zelle von außen wieder ab. Henry geht langsam voraus. Vor der großen Gittertür zum Treppenhaus bleibt er stehen, vergegenwärtigt sich, dass in wenigen Minuten die Welt der Türen ohne Klinken für ihn Vergangenheit sein wird. Unfassbar!
Schröder schließt auf, lässt den Gefangenen vorbei, folgt ihm und schließt hinter ihnen ab. Aus den anderen Stockwerken ertönen metallisches Gerassel, müde Stimmen, das Quietschen von Gummirädern auf dem Bodenbelag. Henry atmet tief ein, saugt ein letztes Mal dieses Aroma von schwarzem Tabak, Putzmitteln und kalt gewordenem Essen ein, das olfaktorische Sinnbild seiner letzten fünfzehn Jahre.
Unverhofft schießt ihm die Angst vor dem, was sein wird, in die Knie. Er strauchelt, lässt beinahe den Karton fallen. Es gilt, die Balance zu finden – in seinem neuen Leben wie auch hier, auf seinem letzten Gang in Waldeck. Eine Welle von Kraftlosigkeit erfasst seinen Körper. Schröder brummelt etwas Aufmunterndes.
Henry fängt sich, dank derselben Fähigkeit zur Beherrschung, mit der er die sich in die Endlosigkeit dehnende Zeit seiner Gefangenschaft überstanden hat. Das Äußere und das Innere – zwei Seiten seiner Persönlichkeit, von der nur die eine für andere sichtbar ist. Sein Inneres gehört ihm ganz allein, alles andere ist ihm genommen worden. Er strafft die Schultern, denkt an seinen Plan, der ihn die Zeit hier drinnen hat überleben lassen und für den er jetzt seine ganze Kraft und Intelligenz braucht. Während die anderen Gefangenen hier drinnen von erinnerter Vergangenheit und erträumter Zukunft leben, ist für ihn nichts geblieben als unbändiger Hass und die Verheißung sein verpfuschtes Leben rächen zu können, an demjenigen, dem er alles zu verdanken hat, das zu verüben, was er verdient: Blutrache.
Zwanzig Minuten später öffnet sich die unauffällige Glastür, die Besuchern und Angestellten der Anstalt vorbehalten ist, mit einem Summen. Bevor Henry den Koffer aufnimmt und hinaustritt, hebt er die Hand zu einem militärischen Gruß an eine imaginäre Mütze, nickt den hinter Sicherheitsglas sitzenden Pfortenbeamten knapp zu – ganz so als wäre er ihr Vorgesetzter. Das Lächeln, das sie mit ihm tauschen, stimmt ihn vage optimistisch.
In diesem Augenblick beginnt sein drittes Leben.
* * *
Sonja lässt die Tasche fallen, tritt sich die Pumps von den schmerzenden Füßen und steuert den Kühlschrank an. Sie zieht eine angebrochene Chablisflasche aus dem Türfach und tappt hinüber ins kombinierte Wohn-Arbeitszimmer. Gegenüber, auf der fiesen Seite ihrer Straße, die aus unbegreiflichen Gründen das hochtrabende Wort Promenade im Namen trägt, ist trotz des frühen Nachmittags eine Party im Gange. Sonja spürt fast so etwas wie Neid auf diese Hemmungslosigkeit, während sie die Gestalten dort drüben beobachtet. Die gardinenlose, eng möblierte Neubauwohnung, direkt über dem Friseursalon mit dem lächerlichen Namen Haaroase gelegen, bietet Einblick wie eine Theaterbühne. Das Theater des Lebens. Ein schwammiger Kerl in weißem Unterhemd zieht die wirrhaarige
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