Der Blaumilchkanal
ich helfen will, Genossen. So einfach ist das!« »Warum ausgerechnet mir?«
»Weil Sie, Herr Hassidoff, der Bürgermeister sind.«
»Was für ein Bürgermeister?«
»Amtierender Bürgermeister, Leiter der
Dorfangelegenheiten. Bürgermeister de facto!«
»Ich bin kein de facto! Ich leite nichts.«
»Lassen Sie die Bescheidenheit, Genossen. Herr Hassidoff, sind Sie denn nicht der Mann, der die Bestellung für die Tnuva aufstellt? Sind Sie denn nicht derjenige, der den Leuten sagt, wann der Lastwagen eintrifft?«
»Das stimmt«, gab Hassidoff verschämt zu. »Sie lassen immer mich das tun. Nur ein Narr wie ich läßt sich eine solche Arbeit aufhalsen.«
»Das ist genau der Grund, der mich bewog, Ihnen meinen Wagen zu leihen, Genossen. Ich habe ihn ohnehin schon bezahlt, also wird es Sie keinen Heller kosten.«
»Was soll das, Herr?« protestierte der Barbier. »Glauben Sie, ich setze mich auf einen Karren? Ein Karren ist dazu da, um Futter zu befördern, nicht Leute.«
Plötzlich tauchte eine mächtige Verstärkung auf.
»Wird es dir schon weh tun, Salman, ein paar Tage auf einem Karren zu fahren, wenn ihn der Herr Ingenieur ohnehin schon für mich gemietet hat?« übertönte ihn die Stimme seiner Frau. »Bist du Bürgermeister de facto, oder wie das der Herr Ingenieur genannt hat - oder bist du’s nicht?«
»Sei nicht blöd!« sagte der Barbier zornig und begann Dulnikker erneut einzuseifen. »Was werden die Leute hier sagen? Nein, Herr«, wandte er sich an Dulnikker, »hören Sie nicht auf das Geschwätz der Frau. Das kommt nicht in Frage.«
Als der Barbier zum erstenmal in dem Karren auf sein Feld hinausfuhr, trauten die Dorfbewohner ihren Augen nicht, besonders da Frau Hassidoff strahlend hinter dem Rücken des teilnahmslosen Frachters saß und den Leuten, die offenen
Mundes vorbeigingen, liebenswürdig zuwinkte. Wann immer Leute in Rufweite herankamen, hielt der Barbier das Fahrzeug an, um sich zu entschuldigen: Es sei nicht seine Schuld, er habe den Karren als Leihgabe für ein paar Tage von dem Ingenieur bekommen, der halte ihn für den Bürgermeister de facto - und ähnliche, mindestens ebenso unklare Ausflüchte. Hassidoff entdeckte jedoch, daß seine Angst übertrieben gewesen war, denn das Spannende verlor sich von Tag zu Tag, und der Barbier auf dem Karren wurde zu einem untrennbaren Teil der Szenerie - genau wie der Staatsmann und sein bebrillter Krankenwärter, wenn sie tief ins Gespräch versunken die Dorfstraße hinunterwanderten.
Was Dulnikker betraf, fühlte er sich seit Beginn seines nun schon ziemlich langen Aufenthaltes in Kimmelquell befriedigt. Sein Erfolg, den Barbier auf den Karren zu setzen, war zwar keine der großen Leistungen auf seinem Konto, aber er betrachtete es als einen guten Start. Zu seiner großen Erleichterung sollte die Fortsetzung nicht lange auf sich warten lassen, wenn auch nicht durch eine Bemühung seinerseits.
Es geschah am Samstag abend in der >Dorfrunde< und so still, daß nur wenige der Speisenden bemerkten, daß es überhaupt geschah. Zemach Gurewitsch, der Schuhflicker, der neben Dulnikker saß, eröffnete mitten im Mahl eine lebhafte Diskussion mit ihm. Das war bemerkenswert, weil es das erste Mal war, daß es, mit Ausnahme der Zwillinge, je ein Dorfbewohner getan hatte.
»Herr Ingenieur«, sagte der Schuhflicker zu Dulnikker, »meine Felder liegen sehr weit vom Dorf entfernt.«
»Wirklich?«
»Daher«, fuhr der Schuhflicker fort, »geben Sie auch mir einen Karren.«
Die Schuhflickerstochter, die kleine Blonde, die neben dem »Herrn Krankenwärter« saß, begann ihren Vater sachte anzustoßen, aber der materialistisch gesonnene Mann brachte sie mit einem Knurren zum Schweigen.
»Laß mich in Ruhe, Dwora«, donnerte Zemach Gurewitsch, »ich bin älter als der Barbier und habe außerdem ein schlechtes Bein. Ich schwöre, es wäre wunderbar, wenn ich ein paar Tage nicht zu Fuß gehen müßte ...«
»Ich würde mit Freude Ihr Ansuchen bewilligen, meine Herren«, rechtfertigte sich Dulnikker, »aber was kann ich tun, wenn Sie, Herr Gurewitsch, keine öffentliche Funktion im Dorf versehen? Das Recht auf einen Karren gebührt dem Bürgermeister, und da gegenwärtig der Barbier die Liste zusammenstellt, steht der Karren zu seiner Verfügung.«
»Das versteh’ ich nicht«, platzte der Schuhflicker heraus. »Wieso verdient der größte Dummkopf im Dorf den Karren?«
»Weil er der Bürgermeister ist, meine Herren.«
»Und wenn ich der
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