Der Blaumilchkanal
Bürger- oder Teufel-was-weiß-ich wäre, könnte ich dann auf dem Karren fahren?«
»Natürlich.«
»Schön, das kann im Handumdrehen geregelt werden. Der Barbier ist mein Freund«, sagte Zemach Gurewitsch kichernd. Er stand auf und hinkte zu Hassidoff hinüber. »Salman«, sagte er und klopfte ihm freundlich auf den Rücken, »weißt du was? Wie wär’s, wenn du an deiner Stelle mich die Tnuva-Liste machen läßt? Es ist wirklich nicht gerecht, es die ganze Zeit dir anzuhängen. Also wechseln wir auf ein paar Tage ab, ja?«
»Gott sei Dank!« rief der Barbier erleichtert, als würde ihm eine Last vom Herzen genommen. Aber gleich darauf jaulte er auf: »Au!« und rieb sich mit saurer Miene den Knöchel unter dem Tisch.
»Salman wollte sagen«, informierte die Barbiersfrau den Schuhflicker, »daß du dafür zuviel zu tun hast, Zemach, und außerdem kannst du nicht lesen und schreiben, und außerdem bist du auch nicht so de facto, verstehst du.« »Weib«, knurrte Gurewitsch, »dich hab’ ich nicht gefragt. Ich habe mit Salman gesprochen.«
»Ich glaube«, stöhnte Salman, »wir lassen die Dinge vorläufig so, wie sie sind.«
Der Schuhflicker klopfte ihm wieder auf den Rücken. Diesmal aber angewidert. Er kehrte auf seinen Platz zurück, wo er verbittert berichtete:
»Der kleine Barbier ist plötzlich ein großes Tier geworden!«
»Natürlich«, bemerkte Dulnikker befriedigt, »er ist ja auch Bürgermeister!«
Jener Abend grub sich in Dulnikkers Herz als ein wunderbares Vergnügen ein. Er stopfte sich mit jedem verbotenen Leckerbissen voll, von Bratenfett bis Sauerkraut, er sog sich mit Schnaps voll, bis er selig besoffen war und der Schmerz in seinen verletzten Gliedern spurlos verschwand. Er sprach mit vielen Bauern fast wie mit seinesgleichen und war diesen Wohltätern herzlich dankbar. Außerdem verabredete Dulnikker an jenem Abend sein erstes Stelldichein mit Malka. Ehrlich gesagt, war es eine durchaus einseitige Handlung. Nach dem schweren Abendessen kam die Frau zu ihm und flüsterte ihm sehr deutlich zu, daß sie nach Mitternacht in der strohgedeckten Hütte hinten im Garten auf ihn warten würde.
Einen Augenblick war Dulnikker bis in die Tiefen seiner Seele erschüttert.
»Wozu?« stammelte er. »Warum sollten Sie auf mich warten, Madame?«
Malka lachte, genoß die bei Männern so übliche Schäkerei von Herzen und ließ dabei zwei Reihen tadelloser, schimmernder Zähne sehen.
»Bringen Sie eine Decke mit«, flüsterte sie, »benützen Sie aber nicht die Treppe, sonst wecken Sie vielleicht wieder den Narren auf.«
Zum erstenmal dämmerte Dulnikker der ganze Ernst seiner schwierigen Lage. In seinem Kopf jagten einander wundersame Gedanken und Verzweiflungsschreie.
»Aber wenn ich nicht die Treppe hinuntergehen kann, kann ich einfach nicht hinuntergelangen.«
»Muß ich es Ihnen erst beibringen, Herr Dulnikker?« sagte das Weib lächelnd. »Sie sind ein Mann von Welt!«
»Ha, ha, ha«, kicherte Dulnikker. »Das bin ich ja wirklich.«
Die seltsame, berauschende Spannung begleitete den Staatsmann, selbst nachdem er zu Bett gegangen war. Er lag mit weit offenen Augen da und versuchte nicht einmal einzuschlafen. Hie und da schaute er ungeduldig auf die Uhr und zählte die Minuten. Was er jedoch die ganze Zeit wirklich wollte, war, einige Worte mit einem Mitmenschen tauschen. Genau wie ein Gewohnheitsraucher, der sich mit einigen Zügen an einer Zigarette entspannt, konnte Dulnikker bloß mit ein paar Worten, und wenn es die kürzeste Rede war, Spannung loswerden. Zum Glück für ihn ging Mischa nach ihm - sehr spät - zu Bett, und Dulnikker beutete diese Gelegenheit aus.
»Sag mir, Mischa«, wandte sich der Staatsmann in der Dunkelheit an den Kuhhirten, »warst du je verliebt?« Die Frage kam ihm unerwartet, fast unwissentlich auf die Zunge, aber der Kuhhirte war überhaupt nicht überrascht. Er antwortete sogar mit ungewohntem Eifer:
»Herr Ingenieur, ich bin gerade jetzt verliebt, in die Dwora Gurewitsch, aber ihr Vater läßt sie mich nicht heiraten.«
»Augenblick«, unterbrach ihn Dulnikker. »Mit welchem Recht mischt sich der Schuster ein?«
»Sie ist seine Tochter.«
»Ich sage dir, mein Freund Mischa, diese Situation wird so lange andauern, solange den Frauen von Rechts wegen nicht gleiche Rechte gewährt werden. Nur eine gesamtstaatliche Regelung wird das Problem lösen helfen.«
»Stimmt.«
»Nun, in deinem speziellen Fall, Mischa, gehen wir der Sache auf den Grund. Bei aller
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