Der Blaumilchkanal
Hochachtung vor dir, mein Freund, schließlich bist du nur der Dorfhirte, während Zemach Gurewitsch der Besitzer einer mit assortierten Produktionsmitteln ausgestatteten Werkstätte ist.«
»Stimmt. Ausgestattet.«
»Hör auf, mich jeden Augenblick zu unterbrechen, Mischa. Laß mich zu Ende reden, genauso wie ich schweige, wenn du redest. Es steht nicht in eurer Macht, Genossen, in diesem Stadium unserer Entwicklung die grausamen Gesetze der Gesellschaft zu ändern. Die Begüterten - und es ist im Augenblick unerheblich, auf welche Weise sie ihre Profite angehäuft haben - errichten Schranken zwischen sich und den unteren Klassen, selbst im Rahmen eines so winzigen Dorfes wie diesem hier. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist sich auch Fräulein Dwora der finanziellen und sozialen Kluft bewußt, und sie ist von sich aus nicht bereit, die gesellschaftlichen Schranken niederzureißen, die ich im Vorgehenden erörtert habe. Kannst du mir folgen?«
»Ich verstehe Sie. Was also kann ich tun, Herr Ingenieur?«
»Sich zusammenschließen, Genossen. Das ist das ganze Geheimnis. Ein einziger öffentlicher Kuhhirte ist noch keine öffentliche Macht; aber alle Hirten zusammen, in einem vereinigten Block, stellen eine Macht dar, die niemand übergehen kann. Wie viele Hirten gibt es außer dir im Dorf, einschließlich aller Hirtengattungen?«
»Nur mich.«
Einen Augenblick schwieg Dulnikker, nahm jedoch bald das Gespräch wieder auf und faßte dessen Schlußfolgerungen zusammen:
»Du mußt durchhalten, Mischa, und dir eine öffentliche Stellung im Dorf erringen, denn eine solche Stellung würde deinen Mangel an materiellen Hilfsmitteln aufwiegen.«
»Öffentliche Stellung?«
»Ja. Irgendeine respektgebietende Funktion, die dich ins Scheinwerferlicht rückt. Wen hält man für die respektierteste Person im Dorf?«
»Man sagt«, berichtete Mischa, »den Kuhhirten.«
»Dich?«
»Ja.«
»Warum?«
»Weil ungefähr die Hälfte des Viehs mir gehört.«
»Dir?«
»Sicher. Ich bin der Reichste im ganzen Dorf, Herr Ingenieur.«
»Jedenfalls, es wird spät, mein Freund, und du mußt schon im Morgengrauen aufstehen«, meinte Dulnikker. »Gute Nacht, Mischa, überlege dir, was ich dir gesagt habe.«
»Jawohl«, antwortete der Kuhhirt und schlief unter schweren Gedanken ein, während sich die Stirn des jungen Riesen vielleicht zum erstenmal im Leben runzelte. Dulnikker wartete, bis es Mitternacht schlug, wusch sich dann schnell das Gesicht und begab sich an das von ihm geplante Unternehmen: Er knüpfte den Ärmel seines Bademantels an das Balkongitter, klemmte eine gefaltete Decke unter den Arm und begann unter lautem Herzklopfen den Abstieg via Bademantel. Sowie der Staatsmann in dem schwachen Mondlicht von oben sah, daß seine Füße fast den Boden berührten, ließ er den Bademantelstrick los und fiel ungefähr zwei Meter tief auf den weichen Gartenboden. Er schlug mit dem Kopf auf und rollte dann in einen Blumenteppich. Während all dieser Manöver kreischte Dulnikker immer wieder entsetzt auf, raffte sich jedoch schnell zusammen, klopfte flüchtig den Staub von seinem Pyjama und kroch auf allen vieren zu der strohgedeckten Hütte.
Es gärt
Bei Tagesanbruch kehrte Dulnikker in sein Bett zurück, geschwächt und schwindlig, dennoch voll angenehmer Erinnerungen an ein unvergeßliches Erlebnis. Diese Nacht in der strohgedeckten Hütte übertraf mit ihrer lebendigen Erquicklichkeit alle Vorstellungen. Der Staatsmann sagte sich, daß es allein um dieser leidenschaftlichen Nacht willen wert gewesen war, zur Erholung nach Kimmelquell zu kommen.
Als Dulnikker zum Ort des Stelldicheins gekrochen kam, hatte er Malka schon wartend vorgefunden. Sie saß in der efeuüberwucherten Hütte in einem rosa Nachthemd und begrüßte den Staatsmann mit ihrem üblichen ermutigenden Lächeln. Dulnikker atmete schwer, und trotz der kalten Nacht spürte er eine seltsame Wärme in sich. Er breitete die Decke auf dem Boden aus und setzte sich neben Malka auf die aus dicken Ästen gezimmerte Bank.
»Ihr Hals ist sehr schmutzig«, sagte die Frau. »Sind Sie auf den Rücken gefallen?«
»Kann schon sein«, erwiderte Dulnikker etwas beleidigt. »Ich habe keinen Fallschirm mit.«
Malka begann, den Lehm mit einem kitzelnden Kratzen abzuschälen.
»Sie haben einen schönen dicken Nacken«, flüsterte sie, während sie drauflosarbeitete.
»Ja, in meiner Familie haben meine engsten Verwandten alle den gleichen dicken Nacken«, erwiderte Dulnikker
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