Der bleiche König: Roman (German Edition)
stützen, dass die scheinbare Unabgeschlossenheit des Romans de facto Absicht war. David beendete seinen ersten Roman mitten in einer Dialogzeile, und in seinem zweiten wurden wichtige Aspekte der Handlung nur gestreift. In The Pale King beschreibt eine Figur ein Stück, das sie geschrieben habe, in dem ein Mann an einem Schreibtisch still vor sich hin arbeite, bis das Publikum das Theater verlasse, und dann gehe die Handlung los. Aber, fährt sie fort, »ich konnte mich nie für eine Handlung entscheiden und ob es überhaupt eine geben sollte«. In dem Abschnitt »Notizen und Randbemerkungen« habe ich ein paar von Davids Notizen über Figuren und Handlungsverläufe zusammengestellt. Diese Notizen deuten ebenso wie einzelne Zeilen im Text Richtung und Gestalt des Romans an, aber nichts davon kommt mir definitiv vor. Ich glaube, David erforschte noch die Welt, die er erschaffen hatte, ohne ihr schon eine endgültige Form gegeben zu haben.
Das Manuskript wurde nur leicht redigiert. Figurennamen mussten vereinheitlicht werden (David erfand immerzu neue Namen), ebenso Ortsnamen, Stellenbezeichnungen und andere Fakten. Hinzu kam natürlich die Korrektur von Grammatikfehlern und Wortwiederholungen. Einige Kapitel trugen im Manuskript den Vermerk »Nullentwürfe« oder »Freischreibe«, Davids Wort für erste Anläufe, und enthielten Anweisungen à la »im nächsten Entwurf um 50 Prozent kürzen«. Aus Sinn- und Rhythmusgründen oder um einen Schlusspunkt für ein Kapitel zu finden, das ohne Schluss im Sand verlief, habe ich hin und wieder Streichungen vorgenommen. Mein Hauptkriterium beim Erstellen einer Reihenfolge und bei der Textredaktion war, unbeabsichtigte Ablenkungen und Verwirrungen aus dem Weg zu räumen, damit sich der Leser auf die von David aufgeworfenen großen Themen konzentrieren kann und um die Erzählung und die Figuren so plausibel wie möglich zu machen. Sämtliche Originalentwürfe dieser Kapitel und das ganze Konvolut an Materialien, aus denen der Roman zusammengestellt wurde, sollen der Öffentlichkeit im Harry Ransom Center der University of Texas zugänglich gemacht werden, das den gesamten Nachlass von David Foster Wallace archiviert.
David war ein Perfektionist ersten Ranges, und natürlich ist es keine Frage, dass The Pale King weit anders aussehen würde, wenn er überlebt und den Roman abgeschlossen hätte. Wörter und Bilder wiederholen sich, die er bei der Überarbeitung garantiert gestrichen hätte: Die Begriffe/Wendung tittenkneifend und die Daumenschrauben anlegen beispielsweise wären wahrscheinlich nicht so oft gebraucht worden. Mindestens zwei Figuren haben Doberman-Handpuppen. Diese und Dutzende anderer Wiederholungen und Flüchtigkeitsfehler wären korrigiert und abgeschliffen worden, wenn David am Pale King weitergearbeitet hätte. Aber das hat er nicht. Und vor die Wahl gestellt, diesen alles andere als abgeschlossenen Text als Buch zugänglich zu machen oder ihn einer Bibliothek zu übergeben, in der ihn nur Literaturwissenschaftler lesen und kommentieren könnten, habe ich keine Sekunde gezögert. Auch unvollendet ist es ein fulminantes Werk, eine Ergründung einiger der größten Herausforderungen des Lebens und ein Unternehmen von exorbitanter künstlerischer Courage. David hatte sich vorgenommen, einen Roman über einige der härtesten Themen der Welt zu schreiben – Traurigkeit und Langeweile – und ihre Erforschung gleichwohl dramatisch, komisch und tief bewegend zu gestalten. Jeder, der je mit David zusammengearbeitet hat, weiß nur zu gut, wie sehr es ihm widerstrebte, Werke aus der Hand zu geben, die seinen hohen Ansprüchen nicht genügten. Aber wir haben nun einmal nur diesen unvollendeten Roman – sollen wir ihn deshalb vielleicht ignorieren? David ist leider nicht mehr da, um uns am Lesen zu hindern oder uns zu vergeben, dass wir ihn lesen wollen.
Michael Pietsch
Danksagung des Übersetzers
Für Übersetzungen recherchiert man abwegige Realia, Insiderkenntnisse, Anspielungen, Hintergründe und manches mehr. Immer tendierten zu sehr charmanten Hilfestellungen:
meine Erstlektoren Arnold und Ilse Blumenbach, Claudia Bodmer, Michel Bodmer, Sibylle Brändli, meine Drittlektorin Helga Frese-Resch, die alles wieder geradegebogen hat, wo ich schiefgewickelt war, mein niederländischer Waffenbruder Iannis Goerlandt, der den Roman neben vielem anderen um ein »veritables Pfaffenstück« bereicherte, Janina Hornberger, die sogar »dihedrale Lordosen« kannte,
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