Der blinde Passagier
Oberstudiendirektor Freitag in sein Sekretariat. Er hatte soeben in der Oberprima Geschichte gegeben und war sehr gut aufgelegt, weil er es in dieser letzten Stunde vor den Ferien noch geschafft hatte, die Schlacht bei Belle-Alliance zu schlagen und einen gewissen Napoleon auf St. Helena endgültig hinter Schloß und Riegel zu bringen. „Ich bilde mir ein, es riecht überall nach Weihnachten!“ stellte er fest und rieb sich die Hände.
„Das bilden Sie sich nicht nur ein, Herr Direktor, das ist so!“ korrigierte eine gewisse Frau Fuchs. Sie saß hinter einer Schreibmaschine und hinter einer Hornbrille.
„Daß ich’s nicht vergesse, Sie müssen mir noch meine Weihnachtsansprache vom vergangenen Jahr heraussuchen.“ Oberstudiendirektor Freitag hatte sich einen Zigarillo aus der Brusttasche geholt.
„Sie liegt schon auf Ihrem Schreibtisch“, flötete die Sekretärin .
„Weihnachten ist ein verflixtes Fest“, gab der Oberstudiendirektor zu bedenken und paffte bereits die erste Rauchwolke in sein Zimmer. „Es liegt so auf der Hand, immer wieder das gleiche zu sagen. Aber gerade davor muß ich mich hüten. Wenn sie es mal zufällig wollen, haben Schüler nämlich ein Gedächtnis wie Schildkröten. Und Schildkröten sollen oft siebenhundert Jahre lang nicht vergessen, was sie einmal in ihrem Leben gehört haben.“
Die Sekretärin, Frau Fuchs, hatte eine ziemlich üppige Oberweite und war etwa fünfzig Jahre alt. Sie rechnete insgeheim nach, wievielmal älter als sie selbst eine siebenhundertjährige Schildkröte war. Das Ergebnis befriedigte sie.
Als die große Pause vorbei war, dauerte es noch etwa zwanzig Minuten, bis der kleine Ulli Wagner im Zimmer der Untertertia als erster seine Sachen zusammenpackte und sein Heft mit der Klassenarbeit auf das Katheder legte. Er grüßte mit einem kurzen Kopfnicken in die Richtung von Studienrat Semmelroth und machte sich davon. Es wunderte niemanden, daß ausgerechnet der Jüngste zuerst lostrabte. Man wußte ja, daß Ullis Vater im diplomatischen Dienst war und daß Wagners noch bis vor einem Jahr in Kanada gelebt hatten.
Schon eine Viertelstunde später lagen auf dem Katheder vier weitere Hefte, und die Reihen der Schüler begannen sich zu lichten.
Peter Schimmelpfennig hatte seine Arbeit schon zum zweiten Mal durchgelesen und korrigiert. Er konnte beim besten Willen keinen Fehler mehr entdecken. Was dir bis jetzt nicht eingefallen ist, fällt dir auch in der nächsten halben Stunde nicht mehr ein, überlegte er. Und im übrigen hast du noch eine ganze Menge zu tun. Er klappte also sein Heft zu, schraubte den Füllfederhalter zusammen und stand auf.
Beinahe im gleichen Augenblick packte auch der Sheriff seine Siebensachen zusammen. Als sie gemeinsam an der Tür kehrtmachten, meinte Studienrat Semmelroth mit einer leichten Verbeugung: „Have a nice afternoon, boys.“
„Thank you, Sir.“ Auch Peter Schimmelpfennig verbeugte sich.
„Same for you“. wünschte der Sheriff noch, und dann waren beide schon im Korridor.
Sie nahmen ihre Mäntel von den Garderobenhaken und gingen wortlos nebeneinander über die Treppe zum Ausgang.
Durch die Türen der anderen Klassenzimmer waren Stimmen von Lehrern und Schülern zu hören. Eine der unteren Klassen übte ein Weihnachtslied.
Nach zwei Stunden Klassenarbeit im geheizten Zimmer war es angenehm, plötzlich auf der Straße und im Schnee zu stehen. Der Sheriff schlug seinen Mantelkragen hoch und schaute in die Bäume und den Himmel. Die Schneeflocken, die auf sein Gesicht fielen, lösten sich augenblicklich zu Wasser auf. Nach einer Weile sagte er endlich, was er eigentlich schon im Treppenhaus hatte sagen wollen: „Morgen früh beim Schwimmen. Ich hoffe, du...“
„Ja, ich weiß“, unterbrach ihn Peter Schimmelpfennig.
„Dann ist’s ja gut“, stellte der Sheriff fest und rannte zu den Fahrradständern hinüber.
Peter Schimmelpfennig zog den Kopf zwischen die Schultern und machte sich zu Fuß auf den Weg. Ziemlich nachdenklich.
Kurz vor der Kreuzung beim Zeitungskiosk holte ihn der Sheriff wieder ein.
„Und du hast morgen früh nicht unerwartet Keuchhusten oder sonst eine Ausrede?“ wollte er noch wissen.
„Du kannst ziemlich ruhig schlafen“, versicherte Peter Schimmelpfennig, „diesmal komme ich bestimmt.“
„Buenas dias, amigo!“ rief der Sheriff und flitzte davon. Er hatte in der vergangenen Woche im Kino einen Western gesehen, der in Mexiko spielte.
Einiges über einen Untermieter
Weitere Kostenlose Bücher